«Ich mag Bücher, die auf realen Gegebenheiten beruhen»

Die Medizinhistorikerin Iris Ritzmann faszinieren Biografien. So auch «Zivilstand Musiker» über den jüdischen Musiker Alexander Schaichet, der 1914 Zuflucht in Zürich fand. Ein letzter Beitrag der kath.ch-Sommerserie «Reisaus»*.

Sarah Stutte

Als Kind freute sich Iris Ritzmann immer auf den Frühling. «Ich habe es sehr genossen, auf der Schaukel in unserem Garten hoch über allem zu fliegen und mir vorzustellen, dass dieser Moment für immer anhält», erzählt die gebürtige Zürcherin. Es habe aber auch viele schwere Momente gegeben, fährt sie fort. «Meine Mutter erkrankte, was sehr belastend für mich und meine vier Geschwister war. Aus diesem Grund hielten wir aber auch fest zusammen».

Atheistische Jüdin

«Meine Eltern waren bewusste Atheisten, und auch ich glaube nicht an einen Gott», erklärt sie. Doch die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft sei ihr, die bis Mitte Juli dieses Jahres Co-Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich war, immer wichtig gewesen.

Die Mutter flüchtete als jüdisches Mädchen aus Deutschland, viele ihrer Freunde und Verwandten kamen während der Shoa um. «Dieses Wissen als Teil unserer eigenen Identität hat uns Kinder von klein auf begleitet und uns wachsam gemacht gegenüber Antisemitismus, Flucht und Verfolgung».

Heute sei ihr das friedliche Zusammenleben wichtig, sagt Iris Ritzmann. Sie setzt sich für Toleranz ein, solange ein Glaube oder eine religiöse Überzeugung die Rechte anderer auf Freiheit, Selbstbestimmung und Entwicklungsmöglichkeiten nicht einschränke.

Die Welt vergessen

Iris Ritzmann entschied sich, nach ihrem Medizinstudium noch Geschichte zu studieren, um die Logik hinter menschlichen Handlungen nachvollziehen zu können und «das Gegenwärtige in der Medizin als etwas zu verstehen, das sich so entwickelt hat, sich aber auch ständig weiter verändert», erklärt sie.

Bücher seien ihr stets Freunde gewesen. «Ich bin mit einer Bibliothek aufgewachsen. Um mich herum gab es 50’000 Werke. Mein Vater hat sie alle katalogisiert», erklärt die Medizinhistorikerin schmunzelnd. Wenn sie anfange zu lesen, tauche sie ein und vergesse alles um sich herum.

«Ungebrochen ist meine Faszination für Biografien. Als ich klein war, haben mich die Lebensumstände von Kindern aus anderen Ländern interessiert. Bis heute lese ich gerne Bücher, die auf realen Begebenheiten beruhen oder einen stimmigen historischen Hintergrund haben», sagt sie.

Enge Verbundenheit

Auch für die «Reisaus»-Serie hat sie sich mit «Zivilstand Musiker» für einen Blick in die Vergangenheit entschieden. Das Buch schildert die Eindrücke des jüdischen Musikers und Musiklehrers Alexander Schaichet, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zürich wirkte und hier das erste Schweizer Kammerorchester gründete.

«Ich kenne die Orte, die beschrieben werden, und kann zudem nachvollziehen, wie es Schaichet in einer Zeit in Zürich ergangen ist, in der sich die antisemitischen Tendenzen verstärkten», erklärt Iris Ritzmann. Sie fühle sich mit ihm eng verbunden. Auch deshalb, weil sie im Nachlass ihrer Mutter auf die Todesanzeige von Alexander Schaichets Tochter gestossen sei. «Offenbar hat meine Mutter die Familie gekannt», sagt sie.

Zwinglianische Moral

Spannend finde sie im Buch die Passagen mit Bezügen zur Gegenwart. «Zürich hat zu Zeiten Schaichets die Kunstszene zuerst sehr gefördert. Nach dem konservativen Umschwung war Kultur jedoch plötzlich verpönt. Das hatte etwas Zwinglianisches», so Ritzmann. Auch die heutigen Corona-Schutzmassnahmen «sind von einer Moral durchtränkt, die den Menschen gar nicht bewusst ist».

Auf die Frage, was Leserinnen und Leser aus dem Buch mitnehmen können, antwortet Iris Ritzmann: «Schaichets Lebenswerk macht deutlich, mit welch wertvollen Beiträgen Flüchtlinge die hiesige Kulturszene bereichert haben». Natürlich sei der Musiker eine einzigartige Persönlichkeit gewesen, es gebe aber viele Verfolgte, die den Weg in die Schweiz gesucht hätten und heute aktiv zu einem lebenswerten Zusammensein beitragen würden.

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