Bruder Gerold liebt Promis und Diplomaten

Nur schon das Wort «Konsul» im Titel eines Buchs von Ivo Andric lässt Bruder Gerolds Herz höher schlagen. Er liebt die Welt der Diplomatie und ist mit einem Diplomaten verwandt. Ein Beitrag der kath.ch-Sommerserie «Reisaus»*.

Barbara Ludwig

Bruder Gerold Zenoni (62) war schon als Kind vernarrt in Bücher. Mit Grippe im Bett verschlang der damalige Primarschüler die beiden Heidi-Bücher von Johanna Spyri und fing dann gleich wieder mit dem ersten Buch an. «Ich hatte auch eine Karl May-Phase», erzählt der im Urnerland aufgewachsene Benediktiner beim Treffen in der Sakristei der Einsiedler Gnadenkapelle.

Vielleser und Rezensent

Heute schreibt Zenoni Rezensionen für die sechsmal jährlich erscheinende Zeitschrift des Klosters Einsiedeln, was ihm Gelegenheit gibt, seine Leselust immer wieder aufs Neue auszuleben. 1996, da war er schon seit 16 Jahren im Kloster, stach ihm in der Vorschau des Wiener Zsolnay-Verlags die Werbung für den Roman «Wesire und Konsuln» des jugoslawischen Schriftsstellers Ivo Andric (1892-1975) ins Auge. «Die Beschreibung des Buchs klang spannend, vielleicht weil ich ein Faible für historische Romane habe. Ich habe sofort ein Rezensionsexemplar angefordert», sagt Zenoni und zeigt den Werbeprospekt von damals.

Zenoni hatte Mühe, für kath.ch ein Werk zu seinem Lieblingsbuch zu erküren. Es gebe schlicht zu viele Bücher, die ihm gefallen. Irgendwann musste er sich entscheiden. Gewählt hat er das dritte Buch von Andrics «Bosnischer Trilogie», für die der Autor 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

«Gelungene Sätze beglücken»

1945 erschienen, schildert «Wesire und Konsuln» das Aufeinanderprallen von Okzident und Orient. Zenoni fasst zusammen: «Es ist die Geschichte der bosnischen Stadt Travnik, die während der napoleonischen Eroberungskriege eine turbulente Zeit erlebt und in die der Autor ungeheuer viele individuelle Geschichten hineinpackt. Es hat Humor drin, aber auch Tragik.»

Jeder Satz in dem über 600 Seiten starken Buch sei ein Meisterwerk. «Gelungene Sätze beglücken. Darin erkennt man die Meisterschaft eines guten Schriftstellers.»

Das Bild vom hellen Fenster in der Nacht

Bis heute habe sich ihm zudem ein Bild eingeprägt, wie wenn er es in einem Film gesehen hätte: Es ist Nacht, ein Fenster der Residenz des französischen Konsuls Jean Daville hell erleuchtet. «Es ist Fiktion, aber realer als jedes erleuchtete Fenster, das ich zeitlebens sah.» Auch dies spreche für die literarische Qualität des Buches.

Aber da ist noch etwas Anderes. Und das hat mit dem ganz realen Leben des 62-jährigen Mönchs zu tun. Wichtige Figuren  im Buch von Andric sind – so sagt es bereits der Titel – Konsuln, also Diplomaten. Das Wort «Konsul» übe auf ihn eine Faszination aus, so der Benediktiner. Worin liegt diese?

Als Mönch an diplomatischen Empfängen

«Gute Frage», sagt Zenoni und wendet den Blick für einen Moment schräg nach oben, an die Decke der Sakristei. «Bei dem Wort male ich mir Geschichten aus, die passieren im Zusammenleben der Völker. Und ich spüre eine Sehnsucht nach dem diplomatischen Parkett. Es gibt glanzvolle Empfänge, an denen sich fein angezogene Leute präsentieren.»

Einmal im Jahr darf Bruder Gerold das erleben, wenn er in den Sommerferien seine Schwester besucht. Raffaela Zenoni ist die Frau des Schweizer Diplomaten Urs Hammer, der seit knapp drei Jahren in Frankfurt am Main als Generalkonsul stationiert ist. «Zuvor war mein Schwager Botschafter in Luxemburg. Beim 1. August-Empfang war sogar der Premierminister von Luxemburg anwesend», schwärmt Zenoni. Dieses Jahr fiel der 1. August-Empfang coronabedingt aus.

Leben des Autors fasziniert

Der Autor von «Wesire und Konsuln» hat mehr als eine Ahnung von Diplomatie. Andric war während rund 20 Jahren im diplomatischen Dienst tätig, zuletzt als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Berlin. Zenoni ist beeindruckt: «Er hat Hitler die Hand geschüttelt. Er kannte Gavrilo Princip, der 1914 das Attentat  auf Erzherzog Franz Ferdinand ausübte. Eine Faszination dieses Leben. Was der alles für spannende Kontakte hatte.»

«Sehen Sie, die Promis suchen mich»

Anlässe, auf denen potentiell Prominente anzutreffen sind, findet der Benediktiner grundsätzlich reizvoll: Zenoni ist auch Journalist. Einer, der gerne Interviews mit Promis führt, die dann in der Klosterzeitschrift «Salve» erscheinen.

Spricht man von ihm als dem «Promi-Jäger von Einsiedeln», scheint ihm das eher unangenehm. «Ich habe ziemlich Erfolg bei der Sache», verteidigt er sich. Just beim Fotografieren im Abteihof grüsst ihn im Vorbeigehen eine Frau. Es ist die Schweizer Jodlerin Nadja Räss, Prix Walo-Siegerin im Jahr 2014. «Sehen Sie, die Promis suchen mich. Mit ihr habe ich auch schon ein Interview geführt», sagt Zenoni und lacht.

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