Beim Lesen kam sich Pfarrer Knellwolf auf die Schliche

«Der Leopard» wurde zur Offenbarung für Ulrich Knellwolf. Wieder und wieder hat der Krimiautor den Weltbestseller gelesen und dabei Dinge über sich entdeckt, die ihm gar nicht gefallen. Ein Beitrag der kath.ch-Sommerserie «Reisaus»*.

Barbara Ludwig

Ulrich Knellwolf (77) hat nicht auf Corona gewartet, um im Kopf zu verreisen. Das tut der reformierte Pfarrer schon sein Leben lang – und es liege ihm eher, als das physische Verreisen irgendwohin, wie er beim Besuch von kath.ch verrät.

«Ich mache gerne Zeitreisen im Kopf.»

Hunderte von Büchern füllen die Regale in seiner Wohnung in Zollikerberg. Manche davon haben ihn in andere Länder entführt. Und in andere Zeiten. «Auch die historische Dimension spielt oft eine grosse Rolle. Ich mache gerne Zeitreisen im Kopf», sagt Knellwolf. Darum habe er den «Leopard» (1958) von Giuseppe Tomasi di Lampedusa für die kath.ch-Sommerserie ausgewählt.

In dem Roman schildert der Schriftsteller, selber Inhaber eines Fürstentitels, den Niedergang eines sizilianischen Adelsgeschlechts zu Zeiten von Garibaldi. Der Protagonist der italienischen Einigungsbewegung brachte 1860 das Königreich beider Sizilien zu Fall.

Vorliebe für erzählte Geschichte

Die Faszination für Zeitreisen hänge wohl mit seinem Interesse an Geschichte zusammen und insbesondere mit seiner Vorliebe für «erzählte Geschichte», sagt der Theologe. «Diese gefällt mir mehr als analysierte, abstrakte Geschichte. Und wenn es dann ins Mythologische geht, stört mich das nicht.» Er schreibe selber hie und da solche Geschichten.

20 Mal den «Leopard» gelesen

Als Knellwolf den Weltbestseller «Der Leopard» kaufte, war er knapp über 20 Jahre alt. Noch heute hängt der Buchliebhaber an der ersten, 1959 erschienenen deutschen Übersetzung. Bereits bei der ersten Lektüre packte es den damaligen Kantonsschüler – und liess ihn nicht mehr los. «Während 20 Jahren habe ich dieses Buch jedes Jahr einmal gelesen.»

Woher die Faszination? Knellwolf lehnt sich in der Ecke des Sofas zurück, verschränkt die Arme und sagt ganz unverblümt: «Das habe ich mich lange auch gefragt.»

Darstellung einer versunkenen Welt

Unterdessen glaubt Knellwolf, eine Antwort gefunden zu haben. Es sei die Darstellung einer versunkenen Welt, die trotz allem noch nicht total erledigt sei. «Das Buch zeigt: Viel von der antiken Lebensauffassung, die letztlich eine tragische war, hat in Europa bis ins 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart überlebt.»

Zu diesen Restposten der Antike zählt der Theologe die Resignation und Hoffnungslosigkeit, die den Roman prägen, der aus der Perspektive des Fürsten von Salina erzählt wird. «Es muss sich alles ändern, damit alles beim Alten bleibt», heisst es in dem Buch mehrfach. Knellwolf deutet es so: Die Geschichte bringt bei Tomasi di Lampedusa nichts Neues; Geschichte ist das immer Gleiche in neuen Variationen.

Kontrastprogramm zum Christentum

Diese Weltsicht empfindet Knellwolf als «Kontrastprogramm» zu einer christlichen Welt- und Lebenshaltung. Aber offenbar habe er selbst von der antiken Weltsicht so viel in sich, dass er von diesem Buch jahrzehntelang nicht loskam. «Ich bin nämlich ein relativ ängstlicher Mensch», outet sich der als Krimiautor bekannt gewordene Theologe.

Dass in dem Buch eine geschichtliche Dynamik auf Abwehr stosse, sei ein Wesenszug, der ihn insgeheim anspreche. Gleichzeitig sei ihm bewusst: «Christlich ist das nicht.» Mit der christlichen Botschaft vom nahenden Reich Gottes brächten die Christen eine Dynamik in die Welt, die auf ein Ziel ausgerichtet sei. Davon finde sich in dem in dem Werk, dessen barocke Fülle den Theologen ins Schwärmen bringt, rein gar nichts.

«Ich bin ein relativ ängstlicher Mensch.»

Dass er seine Hoffnung gern auf stabile Verhältnisse setze, sei angesichts der grossen biblischen Geschichten wie etwa dem Buch «Exodus» im Alten Testament «vollkommener Blödsinn». Das Christentum soll gerade nicht stabilisierender Faktor bestehender Verhältnisse sein, findet Knellwolf. «Ich hatte immer das Gefühl: Etwas aus dem Buch spricht mich an, das mit dem, was ich theologisch vertrete, nicht kompatibel ist.»

Das habe er dank dem «Leopard» als Versuchung bei sich entdeckt, sagt er lachend. Und ergänzt dann: Man werde nicht Theologe, wenn man nicht gewisse Dinge, die man mit sich herumtrage, klären und überwinden wolle.

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