«Das ist mein Dostojewski-Sommer»

«Sternstunden»-Moderatorin Olivia Röllin ist eine begeisterte Viel-Leserin. Diesen Sommer hat sie sich Dostojewskijs grösste Romane vorgenommen. Sie liebt das explosive Pathos in seinen Büchern. Ein Beitrag der kath.ch-Sommerserie «Reisaus»*. 

Eva Meienberg

Der Anstoss zur Lektüre kam nicht zuletzt von Friedrich Nietzsche. Olivia Röllin, die Sternstunde-Moderatorin beim Schweizer Fernsehen, hat unlängst ihre Masterarbeit in Philosophie zu Nietzsche geschrieben. Das grosse Lob des Philosophen über den Psychologen Fjodor Michailowitsch Dostojewskij machte sie neugierig.

Blick durchs Schlüsselloch auf die russische Gesellschaft

Die Geschichte der «Brüder Karamasow» erstreckt sich über tausend Seiten. Es brauche schon etwas Ausdauer, meint Olivia Röllin. Dass es sich lohnt, wird klar, wenn man sie erzählen hört. «Dostojewskij lässt uns durch ein Schlüsselloch auf die russische Gesellschaft seiner Zeit schauen», schildert sie.

Da schreibe er beispielsweise von einem Gerichtsprozess. Die Anwälte überböten sich in eitlen Reden in epischer Länge. Am Schluss sei alles reine Rhetorik. «Fantastisch! Ein ‹must› für alle Jus-Studierenden», kommentiert Olivia Röllin schelmisch.

«Pathos bedeutet maximale Emotion.»

Die Lektüre kommt Olivia Röllin vor wie ein Theaterbesuch. Leidenschaftliche Figuren treten auf der Bühne auf. Das Pathos hat es Olivia Röllin angetan. Mit sehnsuchtsvollem Blick schaue sie manchmal nach Süden und sei fasziniert, wie dramatisch es dort zu und her gehe.

Mit viel Emotionen durchs Leben gehen

Sich selbst hält Olivia Röllin für wenig pathetisch, findet aber: «Es ist eine interessante Form, mit möglichst viel Emotionen durchs Leben zu gehen.» Das sei auch das Schöne am Schauspiel. Daran interessiert sie die Selbstentgrenzung, das In-eine-andere-Rolle-Schlüpfen. Während der Schulzeit und noch im Studium hat sie selbst Theater gespielt. Momentan hat sie dafür keine Zeit mehr.

Denn seit Januar 2019 schlüpft sie in die Rolle der Sternstunde-Moderatorin beim SRF – eine authentische Rolle, wie sie findet. Religion, Philosophie und die darstellenden Künste sind ihre Leidenschaft. Die ganz grossen Fragen haben es ihr angetan und diese spiegeln sich auch bei Dostojewskij ständig: die Freiheit des Menschen, sein Leiden, das Theodizee-Problem. Dass sie bei diesen Debatten auch selbst im Rampenlicht steht, störe sie nicht. Lampenfieber kennt sie nicht. «Wenn die Kameras laufen, komme ich in Stimmung.»

Empathie für die grössten Unholde

«Es gibt Leute, die sagen, wenn sie einen Wunsch frei hätten, wäre es Dostojewskij nochmals so zu lesen, als wäre es das erste Mal», weiss Olivia Röllin. Sie staunt über Dostojewskijs Charakterstudien. Der Autor schaffe es, Figuren fein ziseliert, in all ihren Facetten zu zeichnen. Auch für die grössten Unholde könne man so Empathie entwickeln. «Manchmal starre ich einfach fasziniert auf diese Satzkompositionen und wiederhole sie laut.»

Es sei ein Buch für Menschen, die sich für Menschen in ihrer ganzen Komplexität interessieren. Eigentlich sei sie ganz froh, so Olivia Röllin, Dostojewskijs grösste Romane nicht schon früher gelesen zu haben.

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