Die Eindeutigkeit gibt es nicht

Für jemanden, der Reisen in arabische Länder organisiert, bietet sich ein Buch zum Islam für die Sommerserie von kath.ch an. Aber muss es so einen komplizierten Titel haben?

Martin Spilker

Thomas Bauers «Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam» ist eines der Bücher, das Ludwig Spirig-Huber mit auf die einsame Insel nehmen würde. Er gibt allerdings zu, dass es keine leichte Lektüre sei. Doch hat ihm dieses Werk des deutschen Islamwissenschaftlers Horizonte eröffnet, die er weit über die Auseinandersetzung mit dem Islam hinaus schätzen gelernt hat.

Ambiguität lässt sich mit Doppeldeutigkeit – hier besser mit Mehr- oder sogar Uneindeutigkeit – übersetzen. Und sie findet sich sowohl im Alltag wie in der Wissenschaft. «Eine Handlung, ein Blick oder eine Bemerkung können so oder anders ausgelegt werden», erklärt Spirig-Huber. Um mit dieser Uneindeutigkeit zurechtzukommen bedürfe es der Toleranz.

Die Ambiguitätstoleranz ist für Spirig-Huber ein Schlüsselbegriff in Thomas Bauers Buch. Das meint, dass Menschen nicht nur feststellen, dass es unterschiedliche Haltungen gibt, sondern diese gegenseitig anerkennen und neben der eigenen Meinung stehen lassen können. «Es ist sicher das Gegenteil dessen, was heute oft erwartet wird: Ein Ja oder Nein, ein Richtig oder Falsch», hält er fest.

Faszinierende Erkenntnis

Aufmerksam geworden ist Spirig-Huber auf das Buch im Lehrgang «Religionen begegnen – Spiritualität vertiefen». Das Buch von Bauer wurde immer wieder als Grundlagenwerk für die Beschäftigung mit dem Islam dargestellt. So hat er es sich selbst vorgenommen, durchgearbeitet und sich dazu gleich einen Ordner voll Notizen und Literatur angelegt.

Entsprechend war für ihn, der unter anderem Reisen in islamisch geprägte Länder organisiert, die Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Traditionen dieser Religion eine faszinierende Erkenntnis. Eine Erkenntnis zudem, die sich mit seinen Erfahrungen bezüglich Offenheit von Muslimen im arabischen Raum sowie in Europa deckt.

Im Unterschied zum gängigen Trend, von «dem Islam» zu sprechen, habe es auf der arabischen Halbinsel immer eine Vielzahl von Traditionen gegeben, die auch den Koran breit ausgelegt hätten. Und die sich deshalb nicht in die Quere gekommen sind. Wo Differenzen bestanden, wurde nach einer Lösung gesucht. Das konnte heissen, dass diese bestehen blieben oder einander angenähert wurden. Was für ein Unterschied zur heutigen, leider oft von extremen Gruppierungen geprägten Sicht auf Islam und Koran.

Bei der Ambiguität handelt es sich um eine Denkweise, die sich auch im Judentum und Christentum findet, sagt der Theologe: Nicht umsonst zähle das Neue Testament vier Evangelien mit teils gleichen, teils aber auch gegensätzlichen Inhalten. «Manchmal wüssten wir nur zu gerne, was Jesus wirklich gesagt hat. Aber diese Eindeutigkeit gibt es nicht», stellt Ludwig Spirig-Huber fest.

Eine bei der Lektüre wesentliche Erkenntnis ist für ihn, unterschiedliche Haltungen nebeneinander stehen lassen, akzeptieren und sorgfältig damit umgehen zu können. «Das bedeute allerdings kein ‹alles ist möglich›», schränkt Ludwig Spirig-Huber ein. Denn das wäre nichts anderes als das andere Extrem einer dogmatisch-ausschliessenden Haltung, die er – nicht nur, aber auch – in der katholischen Kirche kritisch beobachtet.

Mut zu sagen «Ich weiss es nicht»

Als vollkommen anderes Beispiel von Ambiguitätstoleranz nennt Spirig-Huber die Auftritte des früheren Epidemie-Beauftragten des Bundes, Daniel Koch. Immer wieder sollte er erklären, was denn nun der beste, der richtige Weg zur Eindämmung des Virus sei. «Er hat sich in dem Moment auch immer wieder getraut zu sagen: ‹Ich weiss es nicht.›.»

Essenz aus der Lektüre des Buches von Thomas Bauer ist für Ludwig Spirig-Huber, dass Menschen viel voneinander lernen können, wenn sie sich auf eine Haltung der Ambiguität eingelassen. Das gilt für ihn über Religionsgrenzen hinaus. Doch, und damit schliesst er den Kreis zum Buchtitel: «Meine Hochachtung vor dem Islam ist enorm gestiegen.»

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