Heisser Draht nach oben? Vom Beten in besonderer Zeit

Was bringt Beten und was nicht, wenn das Corona-Virus umgeht? Darauf gibt die Neutestamentlerin Hildegard Scherer* eine Antwort in ihrem Gastbeitrag.

Die meisten reden nicht gross davon. Sie tun es einfach, wenn es ihnen danach ist. Oder auch länger mal nicht. In diesen Tagen bangt vielleicht der eine oder die andere sehr um nahe Menschen: den jungen Kollegen, der aufgeboten worden ist – die Verwandten, die im Gesundheitswesen arbeiten – die liebe, alte Bekannte im Pflegeheim. Und fragt sich vielleicht, ob Beten jetzt eine Möglichkeit wäre.

Mensch bleibt in der Verantwortung

Ich denke, Beten ist keine Möglichkeit, wenn ich erwarte, dass Gott dann, zack, einen grossen Schalter umlegt und alles wieder in Ordnung bringt. Nichts berechtigt zur Hoffnung, dass der Gang des Irdischen durch noch so viel Gebet ausser Kraft gesetzt wird.

Seife und Abstand lassen sich nicht durch Gebet ersetzen. Es bleibt unsere menschliche Verantwortung, alles Menschenmögliche zu tun. Das ist der Preis der Freiheit. Wer hustend draussen unterwegs ist, den wird Gott nicht plötzlich ausbremsen. Das Virus wird nach den Gesetzmässigkeiten der Natur ansteckend bleiben, leider, und die menschlichen Möglichkeiten sind begrenzt.

«Seife und Abstand lassen sich nicht durch Gebet ersetzen.»

Sollte am Ende alles zumindest für uns gut herauskommen und wir das als ein kleines oder grösseres Wunder betrachten, dann ist das ein ungeschuldetes Geschenk. Es steht uns nicht zu nachzuvollziehen, auf wessen und wie viel Gebet das zurückzuführen ist. Genauso wenig dürfen wir dann die vergessen, bei denen es eben nicht gut herausgekommen ist, wie gläubig sie auch immer sind.

Es öffnet sich keine himmlische Rechentabelle

Beten ist auch keine Möglichkeit, wenn sich dabei eine himmlische Rechentabelle auftut: Wenn wir jetzt mehr beten, lässt sich Gott umstimmen, und dann wird es bald wieder gut. Oder: Weil wir zu wenig gebetet haben, hat Gott diese Prüfung geschickt, damit wir mehr an ihn denken. Braucht Gott etwa unsere Aufmerksamkeit? Führt er etwa Buch, ab wie viel «Gebetsaufkommen» er Viren loslässt?

«Braucht Gott etwa unsere Aufmerksamkeit?»

Die Bergpredigt warnt vor einem Gebet der vielen Worte, denn der Vater wisse, was wir brauchen, bevor wir ihn bitten (Matthäusevangelium 6,7f.). Auch wenn er nicht einfach die exponentiellen Wachstumskurven dieser Welt aushebelt. Auch wenn unser aller Leben auf ein Ende, und, gläubig gehofft, auf eine Erfüllung zuläuft. Wenn sich Leid so einfach mit zu wenig Gebet oder schiefem Lebenswandel erklären würde, dann wäre nach christlicher Sicht nicht Jesus am Kreuz gestorben, kein Märtyrer hätte je gelitten und keine Heilige eine Krise ausgestanden.

Keine Garantie, aber eine Hoffnung

Aber vielleicht kann Beten eine Möglichkeit sein, wenn ich dabei nicht nur Vertrauen, sondern auch meine grosse Sorge in Gedanken fassen und an Gott richten kann. Wenn ich auch unbequeme Fragen stellen, mich bei ihm beklagen kann: Die Psalmen der Bibel sind voll davon. Das sind keine Kinder-Gute-Nacht-Gebete.

«Psalmen der Bibel sind voll unbequemer Fragen.»

Im Psalm 138 fällt der Satz: «Du hast mir in der Seele Kraft geweckt.» Vielleicht entsteht diese Kraft, wenn ich mir im Gebet tragende Worte in Erinnerung rufe. Vielleicht entsteht die Kraft nicht nur bei mir, sondern auch bei denen, an die ich so sehr denke. Kraft für den nächsten Schritt. Garantieren lässt sich das nicht, doch die Hoffnung besteht.

*Hildegard Scherer ist Professorin für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur.

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https://www.kath.ch/newsd/heisser-draht-nach-oben-vom-beten-in-besonderer-zeit/