«Was, wenn du kein Daheim hast?»

«Bleiben Sie zuhause», fordert der Bund in der Coronakrise. Doch darunter leiden Menschen am Rand der Gesellschaft besonders stark. Das zeigt eine Nachfrage bei der kirchlichen Gassenarbeit in Luzern und beim Café Yucca in Zürich.

Regula Pfeifer

Viele Menschen, die die kirchliche Gassenarbeit in Luzern aufsuchen, haben Angst. Das stellt der katholische Seelsorger Franz Zemp in Zeiten des Coronavirus fest. «Sie nehmen jetzt erst recht wahr, wie sehr sie von der Gesellschaft ausgegrenzt sind», sagt er. Alle Massnahmen, die der Bund beschlossen habe, hätten für sie direkte existentielle Auswirkungen.

Betteln bringt nichts

So fällt aktuell das Betteln als Einkommensquelle weg, da kaum mehr Leute auf der Strasse sind. Zudem greife die Polizei vermehrt ein und verweise die Bettelnden vom Platz. Wer überdies drogenabhängig ist, hat Mühe, an den Stoff zu kommen, denn auch der Drogenmarkt ist eingebrochen. Das sagen Seelsorger Zemp und Franziska Reist, Geschäftsleiterin der Luzerner Gassenarbeit.

Die Anlaufstelle greift den Betroffenen unter die Arme: Mit Gratis-Essensabgaben für Bedürftige und dem Versuch, möglichst viele Süchtige in ein staatlich organisiertes Suchtprogramm einzubinden. Daran sind die Helfer selbst interessiert. Sie wollen das Aggressionspotential, das fehlende Drogen hervorrufen, auch in den Räumen der Anlaufstelle möglichst klein halten.

Alleinsein ohne Freunde

Der bundesrätliche Aufruf, möglichst zuhause zu bleiben, ist für die Menschen, die die Gassenarbeit normalerweise aufsuchen, besonders schwierig. «Viele von ihnen fürchten sich vor dem Alleinsein in ihrem Zimmer oder ihrer Wohnung», sagt Zemp. «Sie haben kaum soziale Kontakte, auf die sie zurückgreifen können.» Denn das Drogenmilieu sei oft eine Welt voller Misstrauen. Niemand wisse, ob der Freund von gestern auch noch der Freund von heute sei.

Ein betroffener Mann führte das dem Seelsorger klar vor Augen. Er fand: «Wo kannst du daheim sein, wenn du gar kein Zuhause hast?» Das zeige, wie klar die Betroffenen ihre höchst problematische Situation sähen, sagt Zemp.

Risiko wegen geschwächtem Immunsystem

Ebenfalls gewachsen ist in den letzten Tagen die Angst vor dem Sterben. Suchtkranke erleben schon in normalen Zeiten immer wieder, dass ein Bekannter von ihnen an übermässigem Drogenkonsum stirbt. Die Angst ist laut Zemp durchaus berechtigt. Denn die Randständigen gehörten zu den Risikogruppen. «Bei vielen von ihnen ist das Immunsystem geschwächt, hinzu kommen Lungenkrankheiten wegen des starken Drogenkonsums.» Das bereitet auch dem Seelsorger Sorgen.

Einige hätten religiöse Vorstellungen geäussert, sagt Zemp. Sie sähen das Coronavirus als Strafe Gottes und behaupteten, die Gesellschaft müsse damit durchgeschüttelt werden.

Auch die Mitarbeitenden der Gassenarbeit bekommen die ausserordentliche Situation zu spüren. So muss nun auch bei ihnen alles nach den behördlichen Hygienevorschriften funktionieren. Das Küchenteam in Luzern ist deshalb nicht nur mit Essenschöpfen, Abräumen und Abwaschen beschäftigt.

«Für das Team ist das im Moment wahnsinnig anstrengend.»

Franziska Reist, Geschäftsführerin kirchliche Gassenarbeit Luzern

Nun muss es auch den Zustrom der Besucher in den Essensraum regeln, die Leute auseinanderhalten und zum Desinfizieren anhalten. «Für das Team ist das im Moment wahnsinnig anstrengend», sagt Franziska Reist. Laut der Geschäftsführerin wurden alle Angebote der Gassenarbeit «aufs Notwendigste reduziert». Es gibt weniger Beratungen, weniger aufsuchende Sozialarbeit und kürzere Öffnungszeiten.

Auch das Café Yucca in Zürich hat seine Tätigkeit an die aktuelle Situation angepasst. Das von der Zürcher Stadtmission getragene Angebot ist insofern kirchlich getragen, als es bedeutende Zuwendungen seitens der reformierten und katholischen Kirche erhält.

Nur kurze Pause im Café Yucca

Während sich im Café Yucca vor der Krise Menschen ohne Obdach tagsüber stundenlang aufhalten durften, werden diese nun angehalten, den warmen Ort nach rund einer Stunde oder – bei Platzbedarf früher – wieder zu verlassen. Denn es darf sich nur eine beschränkte Anzahl Personen gleichzeitig im Yucca aufhalten.

«Wer heimgehen kann, den schicken wir bald nach Hause.»

Kurt Rentsch, Leiter Café Yucca

«Wer heimgehen kann, den schicken wir bald nach Hause», sagt Kurt Rentsch, Leiter des Café Yucca. Die meisten verstünden dies und befolgten die Aufforderungen. Doch bei wenigen führe das zu unangenehmen Situationen. «Sie schalten auf stur und wollen bleiben», sagt Rentsch. Da brauche es Überzeugungsarbeit. Man müsse ihnen beibringen, dass es auch in ihrem Interesse ist, wenn das Café weiterhin offen sein darf.

Tagsüber eine Suppe und ein Brot essen, das liegt drin, länger verweilen jedoch nicht. «Sie holen sich damit Ermutigung für die nächsten Stunden», sagt Rentsch. Auch das Abendessen findet neuerdings nicht mehr im Café statt. Es wird dreimal wöchentlich als Take-Away auf die Gasse ausgegeben.

Das Yucca-Team muss dafür sorgen, dass im Café die behördlichen Vorgaben von Abstand und Hygiene eingehalten werden. Das Desinfektionsmittel beim Eingang ist dafür da.

Vor allem Anlaufstelle

Aktuell wirkt das Café Yucca hauptsächlich als Anlaufstelle, wie Rentsch erklärt. Es vermittelt Obdachlose und in Zürich Gestrandete ans Sozialamt oder an andere Stellen, die sich um deren Unterkunft oder Rückreise ins Heimatland kümmern. Das Team berät – während den Öffnungszeiten – vor Ort und via Telefon. «Wir wollen für die Menschen in Not da sein», sagt Kurt Rentsch.

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