Fragwürdiges Priesterbild von Ratzinger

Der Theologe Stephan Schmid-Keiser* analysiert das Priesterbild Joseph Ratzingers im Buch von Kardinal Robert Sarah. Dieses gebe keine Antworten auf den sakramentalen Hunger der Menschen, sagt er in seinem Gastkommentar.

Nun liegt mit der Ausgabe der Tagespost vom 15. Januar 2020 der in diesen Tagen diskutierte Text aus der Feder des emeritierten Bischofs von Rom vor. Ein Auszug daraus zeigt exemplarisch, wie Joseph Ratzinger seine Sichtweise historisch einordnet. Seiner Argumentationslinie folgen, bedeutet in meinen Augen, einer historischen Praxis zu folgen, die bis in unsere Tage pastoral sinnvolle Antworten auf den sakramentalen Hunger vieler Menschen mehr blockiert als ermöglicht.

«Ich muss jeden Satz zwei Mal lesen.»

Ich muss jeden Satz zwei Mal lesen, um Joseph Ratzingers Argumentation folgen zu können. «Für die Priester der Kirche Jesu Christi war die Situation durch die regelmässige oder in vielen Teilen tägliche Eucharistiefeier grundsätzlich verändert», schreibt er gegen Ende des ersten Kapitels. Das ganze Leben des Priesters stehe in der Berührung mit dem göttlichen Geheimnis und verlange daher eine «Ausschliesslichkeit für Gott». Aus der täglichen Eucharistiefeier und aus dem umfassenden Dienst für Gott ergebe sich «die Unmöglichkeit einer ehelichen Bindung von selbst».

Warum, so will ich zugespitzt fragen, ist für Joseph Ratzinger das Auseinanderhalten von Ehe und Eucharistie so wichtig? Kann man denn die Beziehung zum Göttlichen, die der Ehe wie aber auch der Eucharistie sakramental inhärent ist, gegeneinander ausspielen? Wird damit etwa implizit gesagt, dass nur Männer eucharistiefähig seien? Welches Menschenbild vertritt der Text? Ist dieses gendergerecht? Solch grundlegenden Fragen stellt sich der ehemalige Bischof von Rom leider nicht – auch nicht, wenn er die erstrebte sexuelle Reinheit des männlichen Priesterstandes dagegenhält.

Dass zudem ebenso die Frage nach der mit der Priesterweihe verbundenen Verfügungsmacht über den sakramentalen Vollzug (lateinisch ‘sacra potestas’, heilige Macht) hier eine ebenso bedeutsame Rolle spielte, wird im Aufsatz ebenfalls ausgeklammert.

«Dieses Amtsverständnis ist der Gegenwart nicht mehr angemessen.»

Offen ist nun, inwieweit Papst Franziskus die Stossrichtung der Amazonas-Synode weiterführen und Impulse zu einem Perspektivenwechsel geben kann. Das bis heute nachwirkende Amtsverständnis des Konzils von Trient (1545 bis 1563) mit seiner Überhöhung des Priesters (lateinisch: sacerdos) ist der Gegenwart nicht mehr angemessen.

Dies wäre meines Erachtens als Konsequenz aus dem «Presbyterbild des Neuen Testamentes» zu ziehen. Presbyter bezeichnete im frühen Christentum einen Gemeindevorstand. Schon 1967 stellte sich an einer Tagung in Schönbrunn die Frage: Wie kam es sehr bald in der nachapostolischen Zeit und im Laufe der Jahrhunderte vom Presbyter- zum Sacerdos-Bild?**

«Viele Bischöfe stehen im Clinch mit den Bedürfnissen der Menschen.»

Lese ich auf diesem Hintergrund die weiteren Ausführungen von Joseph Ratzinger, muss ich ihn zudem fragen, ob ihm je daran gelegen war, die Aufgaben des Bischofsamtes – wie in alter und ältester Zeit – stringenter von den Aufgaben des Presbyterates inmitten der Gemeinde beziehungsweise heute der Pfarrei her zu denken.

Täten dies die Bischöfe in der gesamten Weltkirche vermehrt, stünden die verschiedenen Dienstämter in der Kirche näher bei den Menschen und wären die einzelnen Glaubensgemeinschaften in ihrem ‘sakramentalen Hunger’ ernster genommen.

«Für euch bin ich Bischof. Mit euch bin ich Christ.»

Augustinus

Umgekehrt dazu ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) in allen Ortskirchen das Bischofsamt in eine strukturelle Engführung gelangt. Viele Bischöfe stehen im Clinch mit den realen Bedürfnissen der Menschen und bleiben leider nicht davor gefährdet, vieles zu verschleiern. Müssten sie nicht der Weisung des alten Kirchenlehrers Augustinus (354 bis 430) folgen, der seinen Leuten im Volk zusagte: «Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ!» Warum also nicht neue Schritte tun zu neuen, variablen Formen des Dienstamtes auch für bewährte Frauen und Männer – ob verheiratet oder nicht?

«Vorrang hat die Bereitschaft, auf Menschen einzugehen.»

Auch eine Errungenschaft des letzten Konzils war es nämlich, das Dienstamt nicht unabhängig von seiner Verankerung im Volk Gottes zu sehen. Das ist der Sinn des gemeinsamen Priestertums. Mit anderen Worten müssten künftig alle Getauften, die einen sakramentalen Dienst im Volk Gottes zu leisten bereit und fähig sind, dies auch tun können – ohne Einschränkung auf Geschlecht oder gesellschaftlichen Status. Vorrang haben soll einzig die Bereitschaft, auf die Menschen einzugehen und sie auf ihrem Weg durch die gemeinsame Feier der Nähe Gottes sakramental zu stärken.

*Der Theologe Stephan Schmid-Keiser war bis zu seiner Pensionierung Gemeindeleiter. Von 2016 bis 2017 war er Co-Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung.

** Siehe dazu: Georg Schelbert, Priesterbild nach dem Neuen Testament, in: Franz Enzler (Hrsg.): Priester – Presbyter. Beiträge zu einem neuen Priesterbild, Luzern/München 1968


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