Grundeinkommen: Realisierbare Notwendigkeit

Durch die Digitalisierung und Automatisierung wird es unvermeidlich, das menschliche Leben anders zu finanzieren: um Massenelend zuvorzukommen.

Theo Bühlmann

Ich erinnere mich an einen Zeitungsbeitrag anfangs der 1990er-Jahre, in dem auf eine ungesunde Entwicklung hingewiesen wurde: Die Einen, die einen Job haben, geraten immer mehr in Stress und Überstundendruck – und die Anderen finden keine bezahlte Beschäftigung mehr. Es spreche viel dafür – zum Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft – die menschliche Arbeit ausgewogen aufzuteilen, sodass alle – dank Technisierung und Automation – weniger Arbeiten müssen und mehr Lebenszeit zur Verfügung hätten. Leider sind wir bis heute weit entfernt von einer gerechten Verteilung: Die Hektik des Alltags vieler wird durch eine allgemeine Arbeitsplatzangst geschürt: Wer kann noch sicher sein, mit seiner Berufskompetenz nicht «überflüssig» zu werden?

Lebensbasis geht verloren

Langsam aber sicher wird es nicht mehr nur eine Sockel-Arbeitslosigkeit sein, die einen gewissen Teil der Leute, besonders schlimm trifft es Jugendliche, keinen Erwerb finden lässt. Es ist davon auszugehen, dass der menschliche Arbeit ersetzende technologische Fortschritt – durch Maschinen, Roboter, Algorithmen, Datenplattformen, Digitalisierung und Industrie 4.0 – nicht mehr wie bisher genügend neue Arbeitsplätze schaffen wird. Sondern in den nächsten 20 Jahren bis zur Hälfte aller Jobs wegrationalisiert, wie verschiedene Zukunftsstudien voraussagen, und zwar in den meisten, nicht nur in gewissen Branchen. Zusätzlich werden noch mehr Arbeitsstellen, um die immer mehr Menschen kämpfen, so schlecht entlöhnt sein, dass es nicht zum Leben reicht. Gleichzeitig gehen noch mehr Profite an die Besitzenden der Technologien und nicht mehr an die Gesellschaft: eine unerträgliche Massenarmut droht auf der einen, extremer Reichtum häuft sich auf der anderen Seite.

Die Ungleichheit der Einkommen sind – nicht nur im globalen Süden verglichen mit dem Norden, sondern auch bei uns – schon heute krass: Schon 2012 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen des obersten Prozentes in der Schweiz 712 662 Franken, die obersten 0,01 Prozent erhielten 11 Millionen! Während breite Bevölkerungsschichten mit Monatslöhnen um 4000 Franken leben, insbesondere Hilfsarbeitskräfte, Angestellte im Dienstleistungssektor, Fachkräfte in der Land- und Forstwirtschaft, VerkäuferInnen, Bediener von Anlagen und Maschinen, MonteurInnen, teilweise auch Handwerks- und Büroberufe. Und: Es ist keine Besserung dieses – in seiner Tragweite nicht genügend erkannten – Ungerechtigkeitsskandals in Sicht. Im Gegenteil wurden und werden die Unterschiede noch grösser. In den OECD-Staaten liegt die durchschnittliche Armutsrate bei über 11 Prozent.

Kippt zuerst die Wirtschaft?

Wer hart arbeitet und gut ausgebildet ist, kann sich (und seinen Kindern) ein «anständiges» Leben aufbauen und am Wohlstand teilhaben: Dieses grosse Versprechen des «freien» Marktes, das seit Jahrzehnten zum (neo)liberalen Credo gehört, wird so zerbrechen. Und mit ihm die Lebensbasis der Demokratien. Für undenkbar viele Menschen bedeutet das Not, Perspektivenlosigkeit, Angst vor der Zukunft, Verlust der Identität und sozialer Kontakte, Anfälligkeit für somatische und psychische Erkrankungen. Und es ist zu betonen: Dies sind nicht Folgen irgendwelcher Schicksalsschläge oder «Naturkatstrophen», sondern voraussehbare Ergebnisse der herrschenden und sich verstärkenden wirtschaftlichen, politischen und technologischen (Un)Ordnung! Menschliche Unverhältnismässigkeit zerstört Lebensgrundlagen und ist Motor von gefährlichen Entwicklungen. Die ökonomischen und insbesondere ökologischen Bedrohungen machen klar, dass es mehr als marginale Korrekturen braucht, um aus der Krise der menschlichen Lebensform insgesamt herauszufinden.

Wann verpuffen die Warnsignale nicht mehr? Vielleicht dann, wenn privilegierte und mächtige Wirtschaftskreise zur Kenntnis nehmen müssen: Sollte es tatsächlich nur noch das Prekariat einer ökonomisch nutzlosen und verarmenden Mehrheit nebst einer dünnen Oberschicht geben, gehen auch deren KonsumentInnen verloren – und die Wirtschaft kollabiert. Was die daraus entstehenden sozialen Unruhen, die Kriminalität bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen dann bewirken, wagen wir uns gar nicht vorzustellen. Vergegenwärtigen wir uns jahrzehntelange Zustände in Lateinamerika, der Weltregion mit dem höchsten Grad an Ungleichheit, um einen Vorgeschmack davon zu bekommen!

Es ist also abzusehen, dass die Gesellschaften so oder so nicht darum herum kommen, den vorhandenen (und ausreichenden!) Reichtum neu und gerecht(er) zu verteilen – zum Leben und Wohl aller, auch zwischen Nord und Süd. Dies ist die Vision des Grundeinkommens, einer minimalen Lebensgrundlage, die jeder Mensch zum Überleben braucht und ihm erst ermöglicht, freie Entscheidungen zu treffen und gemeinschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

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