Damit es Weihnachten werden kann

Das Sternsingen in Rapperswil ist ein Singspiel mit jahrzehntelanger Tradition. Jahr um Jahr weist Jacqueline Mächler in der Rolle der Herbergs-Wirtin das Heilige Paar ab. Einmal will sie die beiden aufnehmen. 

Ueli Abt

«Ich hoffe, dass das Wetter hält», sagt Jaqueline Mächler. Sie eilt durch die schmucken Rapperswiler Altstadtgassen zum Kapuzinerkloster, wo die Darsteller des Sternsingens jeweils vor dem Auftritt ihre Kostüme anziehen. Noch trägt sie ihre dunkelblaue Daunenjacke. Eben hat sie zusammen mit ihrem Vereinskollegen Martin Traber Krippe und Christkind in der moosüberwachsenen Grotte beim Treppenaufgang zum Schloss deponiert.  

Nebenrolle: Jesuskind platzieren

Dass das Jesuskind jeweils vor der Aufführung an seinen Platz kommt, dafür ist Mächler verantwortlich. Doch das ist quasi nur ein Nebenjob. Im traditionellen Weihnachtssingspiel hat sie als hartherzige Wirtin, die Maria und Josef abweist, einen grösseren Auftritt. «Am schönsten wäre es, wenn es schneien würde», sagt Mächler. Das allerdings hat sie in all den Jahren nur ein- oder zweimal erlebt. «Wenn es regnet, tragen wir Pelerinen», so Mächler.

Vom Gelände des Kapuzinerklosters aus fällt der Blick auf den wolkenverhangenen Himmel über dem Zürichsee. Es ist praktisch dunkel, nur knapp am Horizont sieht man ein paar helle Streifen. Unten am Hafen blinkt ein oranges Licht – Sturmwarnung.

Im gut geheizten Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Klosters sind die Darsteller geschützt vor den frischen Böen. Beduinen befestigen gegenseitig ihre Arabertücher auf dem Kopf, Hirten helfen sich in die Kostüme. Die Knechte des Mohrenkönigs mit ihren schwarz geschminkten Gesichtern sind schon bereit und haben Zeit zum Plaudern.

Filmaufnahmen für 2020

«Dieses Jahr ist alles etwas anders», sagt Mächler und deutet auf das Dreierteam aus deutschen Fernsehleuten. Journalistin, Kameramann und Tonassistent zeichnen gerade auf, was der diesjährigen Maria-Darstellerin ihre Rolle bedeutet. Der Beitrag soll circa in einem Jahr ausgestrahlt werden, wie Mächler weiss.

Sie steigt nun in ihr weisses Gewand, zieht Rock, Schürze darüber an und ein blaues Tuch über den Kopf. Ein gewisses Lampenfieber gehöre jedes Mal dazu, sagt sie. Bei ihrem Auftritt im Erker eines angrenzenden Altstadthauses sei sie ausgestellt. «Ein wenig kribbelt es schon», bei vielen Mitwirkenden sei das so. «Ein gutes Gefühl», sagt Mächler.

Pferd, Esel, Kamel und Schaf

Inzwischen halten sich die Darsteller draussen bereit. 18 Primarschüler, die als Engel auftreten, warten in ihren weissen Kapuzengewändern und Windlichtern im Hof. In der Gasse vor dem grossen Holztor sind die Darsteller mit Tieren eingetroffen, Mitarbeiter des Kinderzoos halten Kamele am Zügel, Hirten halten Schafe an Stricken, Josef eine Eselin. Das Kamerateam setzt eine Leuchte ein. Der Darsteller des Königsknechts, den Geldgier antreibt statt Frömmigkeit, sagt dem Fernsehteam zu seiner Rolle: «Einer muss es machen.»

Maria und Josef, Engel und Hirten, Sterndeuter und Könige – im Rapperswiler Sternsingen wimmelt es von edlen, guten oder gar himmlischen Figuren. Vom grausamen Herodes ist im Stück nurmehr die Rede. So richtig negativ ist nebst dem materialistischen Königsknecht eigentlich nur die Figur der Herbergsinhaberin, welche das heilige Paar buchstäblich von oben herab behandelt.

«Eine Traumrolle»

«Die Wirtin war für mich eine Traumrolle», erzählt Mächler in dem ihr eigenen hohen Erzähltempo. Für die Rolle seien zwei Eigenschaften gefragt: eine kräftige Stimme und ein dezidiertes Auftreten. «Ich bin ziemlich forsch», sagt sie. Die Vorzüge ihres Auftritts: «Man hat eine wunderbare Aussicht auf das Spiel und ein Dach über dem Kopf.»

Der Erker, von dem es scheint, dass er fürs Sternsingen gebaut worden wäre, gehört heute zu einer Praxis für Kinderpsychiatrie. Dass die Mieter den Sternsingern Zutritt gewähren müssen, stehe im Mietvertrag, sagt Mächler. Sie hält sich nun hinter den Vorhängen am Fenster bereit für ihren Auftritt.  In dem Praxisraum ist sie nicht ganz allein: Zwei Tontechniker verfolgen inzwischen das angelaufene Spiel im Drehbuch mit und regeln übers Mischpult die Pegel der Funkmikrofone der Darsteller.

In Sternsinger-Familie eingeheiratet

Mächler stammt ursprünglich aus dem Kanton Bern, Konfession: reformiert.  Weihnachten habe man in ihrem Elternhaus «nie gross gefeiert». Allerdings hat die bald 66-Jährige in eine Sternsinger-Familie eingeheiratet. Der Mann wirkte seit Jahren mit, der Schwiegervater war über lange Zeit fürs Sternsingen Regisseur. Als sie und ihr Mann nach der Hochzeit nach Rapperswil zogen, lag es nahe, dass auch sie beim Sternsingen mitmachen würde.   

Zunächst begann sie als sogenannte Einzügerin: Als Beduinen verkleidete Mitwirkende heischen jeweils beim Publikum Geld für einen guten Zweck (siehe Kasten). Als 1987 eine Darstellerin eines grossen Engels ausfiel, wurde sie als Aushilfe angefragt. «Ich kannte die Lieder nicht, den Text las ich von einem Spickzettel ab», erzählt Mächler.

Später spielte sie jahrelang als Hirtin mit. Ihre heutige Rolle spielte sie erstmals 1997, als sich ihre Vorgängerin altershalber zurückzog. Heute singt Mächler in einem katholischen Kirchenchor in Jona. Auch wenn ihr einiges in der katholischen Liturgie fremd geblieben ist, findet sie: Der liebe Gott sei in beiden Konfessionen doch derselbe.

Ein Fenster der Praxis steht offen, doch man hätte Josefs mikrofonverstärkte Stimme auch so gehört: «Macht auf Herr Wirt! Macht auf Herr Wirt!» Mächler öffnet das Erkerfenster, ein Schweinwerfer ist auf sie gerichtet. «Wer schreit da so spät noch? Wer hat sich verirrt?», spricht sie in strengem Ton. Vergeblich Josefs Einwand, «der Reichste» werde bald geboren. Laut Text des Sternsingerspiels hat das Haus der Wirtin nur Betten für «habliche Herren».

Während das Spiel unten auf dem Platz weiter geht, Maria und Josef sich bei der Grotte niederlassen und die Hirten mit ihren Schafen eintreffen, wartet Mächler auf ihren zweiten Auftritt.

Aus ihrer Sicht könnte man das Weihnachtsspiel durchaus sprachlich etwas modernisieren. Einen entsprechenden Vorstoss habe es unter Sternsingern einmal gegeben, die heute als Verein organisiert sind. Doch die Mehrheit war dagegen. Das Stück wird heute weitgehend so aufgeführt, wie es der Bankverwalter Karl Blöchlinger aus Uznach unter einem Pseudonym Ende der 1950er-Jahre schrieb.

Beständigkeit ist Traditionen eben wesensmässig eigen. «Am Jahrestreffen des Vereins hat sich der Vorstand einmal für ein anderes Menu entschieden», sagt Mächler, die selbst dem Vorstand angehört – das habe einen Aufstand gegeben.

Als Kassierin beschäftigt sie das Sternsingen über das ganze Jahr hinweg. Unter anderem gilt es, Sponsorenbeiträge zu generieren.

Floristinnenlehre nach Geschäftsaufgabe

Während 35 Jahren hat die gelernte Optikerin zusammen mit ihrem Mann ein Optikgeschäft, vom Spieltort aus gleich um die Ecke, geführt. Ende 2012 übergaben sie die Führung des Unternehmens an ihre Nachfolger, was für Mächler aber nicht den Ruhestand bedeutete. Stattdessen absolvierte sie eine Lehre als Floristin. Sie arbeitet heute aushilfsweise in einem Blumengeschäft, und engagiert sich in der Brockenstube des Gemeinnützigen Frauenvereins.

Inzwischen haben unten die Könige und ihr Tross mit Hilfe des Sterns zu Christkind und Krippe gefunden und ihre Geschenke überbracht. Maria hat ein mit Flötenklängen begleitetes Schlummerlied gesungen. Dann hat ein Engel vor Herodes, «dem blutigen Henker» gewarnt. Als der gesamte Tross mit Maria Josef und dem Kind aufbricht, öffnet Mächler in der Rolle der Wirtin erneut das Fenster. Nun will sie die «hochedlen Gäste» willkommen heissen, doch es ist nun sie, die eine Abfuhr erhält.

Ihre Rolle als Wirtin will sie irgendwann abgeben. «Einmal werde ich dann noch Josef und Maria hereinlassen», sagt sie mit einem Lächeln – wenn nicht in der eigentlichen Aufführung, so mindestens in einer Probe.

Mitten durch die Menge mit Ross und Kamel

Noch scheint dieser Moment angesichts der munteren, ja energiegeladenen Darstellerin weit entfernt. Die Zuschauer unten auf dem Platz applaudieren, die Weihnachtsbeleuchtung mit vielen Lichtpunkten über dem Platz geht an. Mitwirkenden ziehen mit Laternen und Fackeln, Schafen, Kamelen und Pferden durch eine Gasse im Publikum, voran gehen die Opfer heischenden Beduinen mit ihren Sammelbüchsen.

«Wir sind jeweils froh, wenn alles gut geht», sagt Mächler im Hinblick auf die erfahrungsgemäss schreckhaften Pferde. Was das Sternsingen für sie bedeutet, beschreibt sie ganz ähnlich, wie es der geldgierige, berittene Trossknecht dem deutschen Kamerateam vor der Aufführung ins Mikrofon gesprochen hat: Wenn das Sternsingen wieder einmal gut über die Bühne gegangen ist, kann es Weihnachten werden.  

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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