«Wir können diese Situation nur bedauern»

Mehr Sicherheit für jüdische Gemeinden: Das fordert der Bund – und bittet auch die Kantone zur Kasse. Doch die meisten Kantone handeln nicht, wie eine Recherche von kath.ch zeigt. Das empört Juden in der Schweiz.

Raphael Rauch

Der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle am jüdischen Feiertag Jom Kippur hat wieder einmal gezeigt, wie gefährdet Juden in Europa sind. Schon länger gibt es in der Schweiz Diskussionen, wie man die jüdischen Gemeinden besser schützen kann.

Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), findet: «Die Sicherheitsmassnahmen in der Schweiz sind schon seit einigen Jahren auf einem hohen Stand. Halle hat daran nichts geändert. Das Attentat wird aber in die Sicherheitsanalysen einfliessen.»

Erhöhte Gefährdungsstufe

Laut Bundesnachrichtendienst gilt für Juden in der Schweiz eine erhöhte Gefährdungsstufe. Doch Winter ist froh, dass «die Gefährdungslage zum Glück nicht derart dramatisch ist wie in anderen Ländern Europas». Das Beispiel Halle zeigt, wie wichtig Sicherheitsvorkehrungen sind: Hätte der Rechtsterrorist die Synagogen-Tür aufbrechen können, wäre es wohl zu einem Blutbad gekommen.

Doch Sicherheit kostet Geld. Zum Teil müssen Synagogen in der Schweiz ihre Gemeindearbeit reduzieren, um Gelder für die Sicherheit aufzubringen. Umso mehr hoffen jüdische Gemeinden auf Unterstützung durch Städte, Kantone und den Bund.

Bundesbern hat unlängst 500’000 Franken in Aussicht gestellt – für gefährdete Minderheiten, also auch für Muslime. Eine Recherche von kath.ch zeigt: Die Kantone Basel-Stadt und Zürich ziehen mit – doch die anderen Kantone drücken sich bislang vor konkreten Zusagen.

«Erwarten grösseres Engagement»

Der SIG kann das nicht nachvollziehen. «Wir erwarten von den Kantonen ein grösseres Engagement in diesem Bereich, auch weil sie diesen verfassungsmässigen Auftrag haben. Wir erhoffen uns ein Umdenken in naher Zukunft», sagt Winter. Die Diskussion über finanzielle Unterstützung jüdischer Gemeinden hatte in den letzten Jahren bisweilen einen antisemitischen Unterton – nach dem Motto: Juden hätten doch genügend Geld, um selbst die Sicherheitsausgaben zu stemmen.

«Auf derartige Formulierungen gehe ich gar nicht ein», sagt Winter. «Fakt ist: Der Schutz von Bürgern und Einwohnern dieses Landes ist klar Staatsaufgabe. In dieser Hinsicht wurde von Seiten des Staates in den letzten Jahren zu wenig unternommen.»

Die Politik der Kantone kritisiert auch Johanne Gurfinkiel, Generalsekretär der CICAD. Dabei handelt es sich um eine in Genf ansässige Koordinierungsstelle gegen Antisemitismus und Diffamierung. «Wir können diese Situation nur bedauern», sagt Gurfinkiel.

«Der Bundesrat macht einige Schritte in die richtige Richtung, aber den französischsprachigen Kantonen ist das egal.» Die Anschläge von Halle hätten die «Behörden nicht ermutigt, wachsamer zu sein. Das ist sehr bedauerlich.»

Kantone halten sich bedeckt

Finanzielle Zusagen gibt es bislang nur von den Kantonen Zürich und Basel-Stadt. kath.ch hat bei den Kantonen nachgefragt, wo ebenfalls Synagogen und jüdische Betsäle vorhanden sind. Der Kanton Aargau teilt mit, derzeit gebe es «keine gesetzliche Grundlage für die Leistung von finanziellen Beiträgen an die Sicherheitskosten von gefährdeten Minderheiten». Allerdings wolle der Regierungsrat das Polizeigesetz überarbeiten und «die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dass der Kanton Aargau Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen finanziell unterstützen kann».

Auch der Kanton Bern verspricht zu handeln: «Nach Inkrafttreten der Bundesverordnung im November 2019 wird sich der Regierungsrat rasch an die innerkantonale Umsetzung machen.» Aus Freiburg ist zu hören: «Wir stellen der Jüdischen Gemeinde Freiburg keinen finanziellen Beitrag für besondere Sicherheitsmassnahmen zur Verfügung.»

Allerdings habe der Staatsrat die Konsultation des EJPD genehmigt – «einschliesslich der in der Begründung zum Ausdruck gebrachten Erwartung, dass sich die Kantone finanziell an der Unterstützung des Bundes beteiligen werden». Aus Zug heisst es, eine Beteiligung sei «grundsätzlich gerechtfertigt», allerdings sei vor Ort «kein Bedarf erkennbar».

Keine zusätzlichen finanziellen Massnahmen

Der Kanton Genf teilt kath.ch mit: «Die Forderung des Bundes ist ein Schritt in die richtige Richtung, da sie mit den bereits unternommenen Anstrengungen des Kantons in diesem Bereich übereinstimmt.» Finanzielle Zusagen macht der Kanton aber nicht, ebenso wenig wie der Jura oder die Waadt. «Diese Frage wird im Lichte des finanziellen Engagements des Bundes zu prüfen sein. Das haben wir der Jüdischen Gemeinde Lausanne vor dem Sommer gesagt», teilt der Kanton Waadt mit.

Das Tessin weist darauf hin, dass die Behörden mit dem Rabbiner von Lugano in Kontakt seien. Während jüdischer Feiertage oder zu besonderen Anlässen gebe es «präventive Kontrollaktivitäten von den Patrouillen der kantonalen Polizei». Zusätzliche finanzielle Massnahmen seien aber nicht vorgesehen, ebenso wenig wie in Luzern oder in St. Gallen.

Antisemitismus in der Armee

Dass Antisemitismus alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht, zeigen auch Vorfälle in der Armee. 2018 wurde an einem Infotag ein orthodoxer Rekrut vom Offizier seiner Gruppe schikaniert und antisemitisch beschimpft – worauf die Armee reagierte. 2019 kam es zu Schmierereien «mit rechtsextremistischen und antisemitischen Inhalten an der inneren Wand eines Holzwachthauses», wie die Fachstelle Extremismus der Armee mitteilt. Der Vorfall sei «Gegenstand einer laufenden Untersuchung der Militärjustiz.»

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