Strassenexerzitien – mit Christian Herwartz Grenzen überschreiten

Ab dem 29. September begleitet der Berliner Jesuit Christian Herwartz in Luzern Strassenexerzitien. Ein Gespräch über Gottesbegegnungen auf der Strasse,  Sehnsüchte, die einen über Grenzen führen können und die Aufmerksamkeit, die es dazu braucht.

Vera Rüttimann

Herr Herwartz, was sind Strassenexerzitien?

Christian Herwartz: Exerzitien heisst: Üben. Aber was üben wir genau? Wir üben Aufmerksamkeit dem Leben gegenüber. Mit den Exerzitien auf der Strasse gehen wir dorthin, wo Jesus ist. Er war stets da, wo Strasse ist. Er nennt sich selbst Strasse, Wahrheit und Leben (Joh 14,6). Und wie kann ich dem Auferstandenen in unserer Zeit auf der Strasse begegnen? Das ist die Kernfrage bei Strassenexerzitien. Und vielleicht finden wir dabei auch nur die Spuren von ihm. Das wäre schon viel. Dafür aber müssen wir aufmerksam sein.

Wozu braucht es diese intensive Aufmerksamkeit?

Herwartz: Um zu spüren, wohin uns die eigene Sehnsucht führt. Vielleicht ist das in einen Hinterhof, auf eine Wiese oder zu einem mir zuvor unbekannten Menschen. Achtsamkeit ist jetzt ein grosses Thema in den Medien. Aber bevor ich in die Achtsamkeit komme, muss ich innerlich meine Schuhe der Distanz und der Vorurteile ausziehen. Was damit gemeint ist: Der spirituelle Einstieg in die Strassenexerzitien ist die Geschichte vom brennenden Dornbusch, den Moses in der Wüste entdeckte. Gott wies ihn an, seine Schuhe auszuziehen und zuzuhören, was jetzt dran ist. Hier bekam er den Auftrag zur Befreiung seines Volkes in Ägypten. Ein heiliger Ort, weil Mose Gottes Wort hörte – und verstand.

Wir üben Aufmerksamkeit dem Leben gegenüber.

Christian Herwartz

Die Schuhe ausziehen heisst: Offen zu werden, die Distanz zur Wirklichkeit abbauen. Wer Schuhe trägt, kann auf hohen Absätzen auf andere hinabschauen, flüchten oder um sie herumtänzeln. Diese inneren Schuhe abzulegen, das sind die geistlichen Übungen.

Wie kamen die Strassenexerzitien zustande?

Herwartz: Vor der Jahrtausendwende besuchte ein Gast unsere Jesuiten-WG an der Naunynstrasse 60 in Kreuzberg, in der ich damals lebte. Er wollte hier Exerzitien machten. Ich sagte ihm, dass es hier weder eine Kapelle noch Stille gebe. Doch er kam trotzdem und ich staunte dann, was unser Gast machte: Er ging raus in die Stadt und meditierte entlang des ehemaligen Mauergrenzstreifens die Frage, was er tun sollte:  Weiter studieren oder im Aidshospiz arbeiten?

Anderentags lud ihn ein Obdachloser ein zu sich zu seinem Schlafplatz. Darin hörte er die Antwort auf seine Frage: Ich bin eingeladen, im Hospiz zu arbeiten. Diese Antworten der Strasse ermutigten, einen grösseren Kurs zusammen mit den Ordensleuten gegen Ausgrenzung für eine Schwesterngemeinschaft auszuschreiben. Im Jahr 2000 fanden in der Kreuzberger Gemeinde St. Michael die ersten Strassenexerzitien statt.

Wie ergeht es Ihnen selbst bei diesen Exerzitien? 

Herwartz: An einen Tag erinnere ich mich gut: Ich übernachtete in einer Notunterkunft. Unterwegs in Berlin habe ich gemerkt, dass es mich zu einem buddhistischen Tempel hinzieht. Ich fand ihn im Keller eines Hauses vor. Schon vor dem Betreten musste ich meine Schuhe ausziehen. Aha! Das war mir vertraut. Dieser Gebetsort wurde von Menschen aus Sri Lanka geführt. Damals herrschte dort gerade Kriege zwischen Christen und Buddhisten.

Als würde ich eine Demarkationslinie überschreiten.

Christian Herwartz

Mir kam es vor, als würde ich eine Demarkationslinie überschreiten. Ich erlebte bei ihnen eine grosse Gastfreundschaft. Zum Schluss bekam jeder einen roten Punkt zwischen die Augen und ich spürte diese Einheit zwischen Gläubigen. Wieder einmal wurde ich von meiner Sehnsucht über Grenzen geführt, die ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Dieses über Grenzen gehen gehört zum Glauben und auch zu den Strassenexerzitien. Wir gehen über Grenzen der Bürgerlichkeit, der Religionen, Sprachen und Stadtgrenzen. 

Wie haben sich die Strassenexerzitien seit ihren Anfängen weiterentwickelt?

Herwartz: Mittlerweile bieten über 100 Leute selbst Strassenexerzitien an und bringen ihre Erfahrungen und Fähigkeiten ein. Immer häufiger geschieht das auch in anderen Ländern. Eine Missionsschwester aus Südafrika, die in Nürnberg Exerzitien gemacht hat, will sie nun auch dort anbieten. An immer mehr Orten laden Leute zu Strassenexerzitien ein und stellen ein kostenloses Quartier für die Teilnehmer zur Verfügung. Zu meiner Überraschung gehen solche Exerzitien sogar im Wald. Eine Basisbewegung ist entstanden.

Und jetzt kommen die Strassenexerzitien nach Luzern. Wie kam es dazu?

Herwartz: Wie haben in Schweiz schon an Orten wie Basel, Zürich oder Freiburg Strassenexerzitien begleitet. Und jetzt ist Luzern dran. Eingeladen hat mich der Luzerner Theologe Marco Schmid. Es überrascht mich, dass es in der Schweiz so viele Begleiter gibt, die Strassenexerzitien hier durchführen wollen. Voller Verwunderung habe ich zudem festgestellt, dass die Schweiz sogar eine eigene Website zu Strassenexerzitien führt.

Die Teilnehmer der Exerzitien in Luzern treffen sich im Seminar St. Beat. Der Erfahrungsaustausch wird auch hier wichtig sein.

Dann sieht er diese Welt aus einer ganz anderen Perspektive.

Herwartz: Richtig. Es ist nicht wie bei Einzelexerzitien, wo ein oder eine Bergleiterin dem Übenden zuhört. Wir hören uns bei den Strassenexerzitien gegenseitig in der Gruppe zu. Das gibt einen grösseren  Effekt: Einmal, weil da ein vielstimmiger Resonanzkörper da ist, wo unterschiedliche Menschen zuhören. Zudem kann die Gruppe mit Anregungen und Fragen auf den Einzelnen eingehen. Das findet in einem intimen Rahmen statt. Oftmals, so meine Erfahrungen, haben Aussagen in dieser Runde eine tiefe Wucht und lösen beim Betroffenen etwas Nachhaltiges aus.

Wohin werden die Teilnehmer bei den Strassenexerzitien in Luzern geführt

Herwartz: Zentral ist auch hier immer diese Offenheit, damit sich Menschen zu etwas hinführen lassen, was sie innerlich bewegt. Das ist eine ganz eigene innere Landkarte. Es kann sein, dass ein Exerzitien-Teilnehmer vor einem Kunstwerk stoppt und mit einem Obdachlosen redet, der dort bettelt oder sich neben ihn hinsetzt. Dann sieht er diese Welt aus einer ganz anderen Perspektive. Um diesen Perspektivwechsel geht es bei den Strassenexerzitien.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/strassenexerzitien-mit-christian-herwartz-ueber-grenzen-gehen/