«Die Tat hat uns sehr schockiert»

Küsnacht, 3.9.19 (kath.ch) Ein Mann stösst in Frankfurt einen Achtjährigen und die Mutter vor den Zug, das Kind stirbt. Der Fall schockiert auch die Schweiz, denn der Täter ist ein im Raum Zürich lebender Eritreer. Es folgen Anschuldigungen und Beschimpfungen. Ein eritreisch-orthodoxer Priester aus Küsnacht sagt: «Die Tat hat uns sehr schockiert. Schade, dass man wegen eines tragischen Einzelfalls alle Eritreer verurteilt.»

Raphael Rauch

Maharena Tsegezab (41) hat sich in ein weisses Tuch gehüllt. An weissen Tüchern erkennt man oft Christen aus Eritrea. Das Tuch erinnert an Grablegung und Auferstehung Christi. An Tsegezabs Halskette baumelt ein Kreuz mit der Aufschrift «Jerusalem». Ob er schon mal in der Heiligen Stadt war? «Nein», sagt Tsegezab. «Ich bin ein Flüchtling aus Eritrea. Ich hatte keine Möglichkeit, ins Heilige Land zu reisen.»

Messe in der reformierten Kirche Wollishofen

Tsegezab ist Priester der Eritreisch-Orthodoxen Kirche. Wie in der Orthodoxie üblich, darf er heiraten. Er wohnt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in Küsnacht und betreut 200 Gläubige. Die Messe feiert er jeden zweiten Sonntag in Wollishofen in einer reformierten Kirche. «Wir suchen Räume, damit wir Kindern und Jugendlichen den Katechismus beibringen können», sagt Tsegezab. Er lobt die Zusammenarbeit mit den hiesigen Kirchen, besonders mit Stephan Schwitter, dem Bereichsleiter Migrantenseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich, und dem reformierten Pfarrer Peter Wittwer.

Seit fünf Jahren lebt Tsegezab in der Schweiz. Sein Deutsch ist gebrochen, zum Interview kommt er mit Teklemichael Mengisteab. Er ist Migrations-Fachmann, betreut Flüchtlinge und hilft beim Übersetzen. Was typisch eritreisch-orthodox sei? Dass die Messe etwa vier Stunden lang gehe, sagt Tsegezab. Wie früher auch in katholischen Kreisen üblich, soll man die Eucharistie nüchtern empfangen. Das bedeutet: Zur Messe um 7 Uhr morgens kommen die Gläubigen ohne Frühstück. Erst später, nachdem sie Leib und Blut Christi kommuniziert haben, dürfen sie Nahrung zu sich nehmen.

«Gott will das nicht»

Der Fall des mutmasslich psychisch kranken Eritreers, der in Frankfurt einen Achtjährigen und die Mutter vor den Zug geworfen hat, beschäftigt auch die Eritreer in Zürich. Er arbeitete bei den Zürcher Verkehrsbetrieben und galt als Beispiel einer Bilderbuch-Integration.

«Uns hat die Tat sehr schockiert. Wir sind in Gedanken bei der Mutter und der Familie des Kindes. Wir teilen ihren Schmerz und ihre Trauer», sagt Mengisteab. Er kann nicht verstehen, warum jemand so eine Tat ausübe. «Gott will das nicht», betont der Priester. Der Täter gehöre nicht zu seiner Gemeinde. «Leute kamen zu mir und haben mir sein Foto gezeigt. Ich habe ihn aber nicht gekannt», sagt Tsegezab.

Hetze gegen Eritreer

Es blieb nicht bei Trauer und Anteilnahme. Rechte Kreise nahmen die Tat zum Anlass, pauschal gegen Eritreer und Flüchtlinge zu hetzen. Eritreer wurden pauschal als «nicht integrierbare Gewalttäter» diffamiert. Die aus Eritrea stammende Ärztin Fana Asefaw erhielt einen handgeschriebenen Brief, wonach Eritreer «Schmarotzer», «geistig behindert» oder «Abfall» seien. «Schade, dass man wegen eines tragischen Einzelfalls alle Eritreer verurteilt», sagt Tsegezab.

Laut dem orthodoxen Priester ist aber niemand nach der Tat persönlich angefeindet worden. Überhaupt nehme er die Schweiz als höfliches, respektvolles und gastfreundliches Land wahr. Wobei sich Tsegezab sehr diplomatisch ausdrückt. Zu den Konflikten in seiner Heimat und in der Diaspora will er sich nicht äussern. «Als Kirche sind wir neutral. Wir unterscheiden nicht zwischen Regimegegnern und Unterstützern des Regimes in Asmara.» Persönlich habe er noch keine Diskriminierung erlebt. «Manchmal höre ich, dass manche Eritreer rassistische Erfahrungen machen. Aber das sind höchstens Einzelfälle. Wer anständig ist, dem passiert nichts.»

Jobsuche schwierig

Nicht immer funktioniert die Integration. «Wir Eritreer sind fleissig. Die meisten möchten arbeiten, aber nicht alle finden eine Stelle. Und manche dürfen nicht arbeiten», berichtet der Priester. Nur wer arbeite, habe eine Chance, sich zu integrieren und Deutsch zu lernen. Manche Flüchtlinge seien Analphabeten.

Die orthodoxe Gemeinde begrüsse den interkulturellen Dialog, betont Tsegezab. «Unsere Kirche ist für alle offen. Manchmal bekommen wir Anrufe: Können wir morgen zum Gottesdienst kommen?» Die Antwort laute stets Ja. «Wir freuen uns über Besucher», sagt Tsegezab. Auch gebe es regelmässig einen Begegnungsabend mit der katholischen und reformierten Kirche in Wollishofen.

Katholische Eritreer in Guthirt

Es gibt auch katholische Eritreer in Zürich. Laut Stephan Schwitter, dem Bereichsleiter Migrantenseelsorge, feiern sie in Guthirt Zürich ihre Gottesdienste, Pfarrer Beat Häfliger kümmere sich «extrem stark» für die Gemeinde. Auch Caritas, das Ressort Migrantenseelsorge und das Ressort Soziales des Synodalrates engagierten sich für Migranten und Flüchtlinge. Wie Zürcher den Eritreern bei der Integration helfen könnten? Schwitters Antwort: «Durch Offenheit, Engagement und auch Begleitung im Falle der orthodoxen Christen in Richtung staatliche Anerkennung.»

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