«Das Erdige eines indianischen Liedes gibt es im Christentum nicht»

Luzern/Rüti ZH, 18.7.19 (kath.ch) Ur-Silben aus heiligen Schriften verschiedener Kulturen. So umschreibt Susanna Maeder ihre  rituellen Gesänge. Sie singt auch in Kirchen, um damit eine neue spirituelle Kultur mitzugestalten. Dies ist ein Beitrag zur Sommerserie 2019 «Heilige Musik».

Sylvia Stam

«He kehau», singt Susanna Maeder, «ho` oma` ema`e-e, ke aloha». Sie steht hinter einem Mikrofon, die Gitarre umgehängt. Vor ihr in einem Halbkreis gegen hundert Menschen, mehrheitlich Frauen. Gleichsam als Echo singen sie nach, was Susanna Maeder vorsingt.

Die Melodie ist eingängig, der Text wird hinter der Vorsängerin auf einer Leinwand projiziert. Schwarze Schrift auf einem Hintergrund von Gras. Das Lied, von Gitarre, Trommel und Didgeridoo begleitet, wird wiederholt, immer und immer wieder.

Einzelne Teilnehmer stehen auf, tanzen mit geschlossenen Augen, wippen hin und her, andere wiegen sich sitzend.

Mitgefühl mit allem, was ist

«Die Liebe ist wie ein reinigender Tau», lautet die Übersetzung des hawaiianischen Sprichworts. Um Liebe, Liebeskraft und Feuer geht es an diesem offenen Singen an einem Frühlingsabend in der Kirche Maihof in Luzern.

«Die Natur zeigt uns zurzeit ihr schöpferisches, fruchtbares Gesicht. Sie spiegelt uns damit unsere eigene Wachstums-Kraft», hatte Maeder zuvor in der kurzen Einstimmung gesagt. In einer Imaginationsübung hatte sie dazu angeregt, sich mit der eigenen Liebeskraft zu verbinden, «mit Liebe und Mitgefühl für uns selber und mit allem, was ist.» Auch mit Menschen, «mit denen ich mich schwer tue».

Verstand soll zur Ruhe kommen

«Love ist the key» (Liebe ist der Schlüssel), lautet denn auch das zweite Lied, «voll Liebe will ich sein», die Zeile eines anderen. Manche Texte sind auf Deutsch, andere in afrikanischen Sprachen, auf Sanskrit, Englisch oder Spanisch.

«Es sind Lieder verschiedener Kulturen und Traditionen, manche Texte sind Ur-Silben aus heiligen Schriften», erklärt Susanna Maeder hinterher im Gespräch mit kath.ch. Wesentlich sei, dass die Lieder kurz und einfach in Text und Melodie seien. «Wenn der Text nicht so im Vordergrund steht, kann unser Verstand zur Ruhe kommen», so Maeder. Gerade in unserer Kultur sei das wichtig, weil der Verstand dominiere und «uns so vom Göttlichen trennt».

Vierfache Wirkung der Lieder

Überhaupt scheint der Text zweitrangig zu sein. «Es entsteht eine Verbindung zum Inhalt, auch ohne dass man die Silben versteht», erläutert die Gesangspädagogin, die heute als Stimmtrainerin, Ritualchorleiterin und Ausbildungsleiterin an der «Fachschule für Rituale» im zürcherischen Rüti tätig ist. Wie die chassidischen Nigunim (Lieder mit inhaltslosen Silben d. Red.) zeigten, hätten selbst Lieder ohne expliziten Inhalt eine Wirkung, und zwar eine vierfache. «Die Lieder öffnen vier Tore, nämlich zu uns selber, weil das Singen nahe an der Seele ist. Sie berühren unser Herz. Dann zu den Menschen, mit denen wir sie singen. Sie verbinden uns mit den Kulturen, aus denen sie stammen und sie öffnen das Tor zum Göttlichen».

«Ein Klang, der ins Herz geht.»

«Jedesmal neu ergibt sich ein Klang, der ins Herz geht», bestätigt ein 54-jähriger Mann, der regelmässig an den offenen Singabenden teilnimmt, gegenüber kath.ch. «Es geht um das gemeinsame Singen mit anderen Menschen, die friedlich beieinander sind.»

«Die Texte spielen eine sekundäre Rolle», sagt auch eine 60-jährige Frau gegenüber kath.ch. «Es geht um die Kraft der Wiederholung. Dadurch entsteht ein Kreis, eine Verdichtung, etwas Nährendes», erklärt die Heilpädagogin, die diese Lieder auch in ihrem Beruf mit behinderten Kindern einsetzt. «Wenn ich heim gehe, singt es in mir weiter», sagt sie lachend.

Kyrie Eleison und Ave Maria

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass neben afrikanischen Silben (»Nime Kumbali, kum fata moto») auch ein katholisches Kyrie Eleison, ein Ave Maria oder das Taizélied «Ubi Caritas» Platz haben. «Die Lieder haben eine spirituelle Ausrichtung, indem sie versuchen, die Verbindung zu etwas Grösserem herzustellen», umschreibt Maeder die spirituelle Dimension der Lieder. Sie würde die Singabende denn auch ohne Bedenken als «Gottesdienste» bezeichnen, zumal die rund ein Dutzend Lieder eines Abends nach einem klaren Ablauf erfolgen, der durchaus an eine Liturgie erinnert: Mit einem Einstiegslied zur Sammlung, einem «Herzlied» im Zentrum und einem Segenslied zum Schluss.

«Die Grenzen sind weiter gesteckt.»

Im Unterschied zu einem Taizé-Gottesdienst, der ebenfalls weitgehend aus wiederholten einfachen Gesängen besteht, sind «die Grenzen weiter gesteckt», wie Maeder erklärt. Sie beschränken sich nicht auf christliche Gesänge. In diesen nämlich fehlen ihr wesentliche Aspekte des Menschlichen: «Das Archaisch-Erdige eines indianischen Mutter-Erde-Liedes gibt es im Christentum nicht», sagt Mäder. «Daher ziehen die Singabende Menschen an, die weiter gesteckte Grenzen brauchen, um sich spirituell zu erfahren.»

Tiefe Beziehung zu christlichen Wurzeln

Doch entsteht dadurch nicht eine beliebige Patchwork-Spiritualität? «Das kann man so sehen», gibt Maeder unumwunden zu. «Für mich hat das aber mehr mit erweiterten Grenzen zu tun. Wir sind globale Wesen, manche Menschen wollen dies auch in der Spiritualität erfahren können. Andere brauchen die klaren Grenzen einer Religion wie der christlichen. Das gibt ihnen Halt.»

Auf ihre eigene katholische Herkunft angesprochen, spricht sie von einer «tiefen inneren Beziehung zu meinen christlichen Wurzeln».

Transformationskraft des Christentums

Essenziell am Christentum ist für sie «die Liebes- und Transformationskraft, die Jesus über seinen Leidensweg repräsentiert».  «Sich über Leiden und Tod hinaus mit dem Göttlichen in Verbindung zu setzen, kann uns auf unserem eigenen inneren Pfad leiten. Das Christus-Prinzip, dass wir uns an den göttlichen Kern in uns erinnern, lebt in jedem Menschen», so Maeder.

Neue spirituelle Kultur mitgestalten

Sie ist allerdings schon vor Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil sie sich als Frau in dieser Kirche nicht repräsentiert fühlte. Heute führt sie ihre Singabende bewusst auch in Kirchen, denn es geht ihr um das Mitgestalten einer neuen spirituellen Kultur in den Kirchen. Das Besingen von Gottheiten aus anderen Religionen sei zwar für manche christliche Gemeindeleiterinnen und -leiter ein «Stein des Anstosses». Maeder ist jedoch überzeugt, «wenn die spirituellen Grenzen offener werden, werden sich die Kirchen auch wieder füllen».

Heilige Stille

«Ubi Caritas» lautet das letzte Lied dieses Abends. Es ist die bekannte Melodie aus Taizé. Die Menschen stehen auf, rücken zusammen, legen den Nachbarn die Arme auf die Schultern und bilden mehrere Kreise um die Mitte. Sie wiegen hin und her, singend, summend. «Nimm die goldene Herzschale in dir wahr, jetzt gefüllt mit Liebes- und Feuerkraft», sagt Susanna Maeder. «Lassen wir sie nochmals darüber hinaus fliessen zu allem, was lebt.»

Einen Moment lang ist es absolut still. Eine heilige Stille, wie Maeder es nennt. «Nehmen wir diese Kraft mit in die nächste Zeit.»

Video: Aufnahme eines offenen Singens mit Susanna Maeder vom November 2018

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/das-erdige-eines-indianischen-liedes-gibt-es-im-christentum-nicht/