Dem «Umso mehr»-Prinzip in Thora und Neuem Testament auf der Spur

Basel, 13.02.19 (kath.ch) Vor einem halben Jahr gründeten Studenten und Kollegen des ehemaligen Universitätsdozenten für Judaistik, Richard Breslauer, in Basel die Jüdisch-Christliche Akademie. Ein Besuch im Abendkurs «Der Talmud als Denkschule» verrät viel über die Entstehung der Institution sowie die Motivation von Kursteilnehmern und -leiter. 

Boris Burkhardt

Dozent Richard Breslauer beginnt mit der jüdischen Geschichte eines Rabbis im Gespräch mit Kleopatra, die jenen fragt, ob die Toten nackt oder in Kleidern auferstehen würden. Der reformierte Theologiestudent Niklaus Klose (39), angehender Pfarrer, weiss Rat: «Er wird die Blumen zum Gleichnis nehmen, die als Samen nackt in die Erde gehen und in schönen Kleidern auferstehen.»

Die Interpretation verstehen lernen

Breslauer nickt; denn die Kursteilnehmer der Jüdisch-Christlichen Akademie in Basel, die heute abend im Zwinglihaus zusammengekommen sind, haben verstanden, worum es bei der ersten der dreizehn Formeln der Thora-Interpretation im Talmud geht: «Umso mehr» lautet die freie Übersetzung des Prinzips «qal wa chomer» der Talmudschule.

Damit werden einfache Fälle auf schwerwiegende Fälle übertragen und umgekehrt. – So eben auch die auferstandenen Toten in herrlichen Kleidern «umso mehr» als die Blumen.

Zur Pensionierung gezwungen

Richard Breslauer aus Zürich war bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr nebenberuflicher Dozent für Judaistik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Er ist nicht nur einer der Dozenten der jungen Jüdisch-Christlichen Akademie, die im vergangenen Oktober gegründet wurde, sondern auch der Grund ihrer Gründung.

Diese fand nämlich kurz nach seiner «Zwangspensionierung» statt. Zwang deshalb, weil das neue universitätsinterne Gesetz in Basel Dozenten, die das Pensionsalter erreicht haben, verbietet, weiterhin zu dozieren. Auch eine Unterschriftenaktion seiner Studenten, von denen einige an diesem Abend im Kurs «Der Talmud als Denkschule» sitzen, änderte daran nichts.

Zugang zu neuen Perspektiven

Bereits im zweiten Semester will nun die Jüdisch-Christliche Akademie interessierten Theologen und Laien, Juden wie Christen, die Chance geben, am «unglaublichen Wissen» und den neuen Perspektiven Breslauers, wie Klose formuliert, teilzuhaben.

Evelyne Zinstag (29), Pfarrerin französischsprachigen reformierten Kirche in Basel, kam zum Talmud-Kurs, weil sie soviel Gutes über Breslauer gehört habe, vor allem von seinen ehemaligen Studenten wie Klose, mit denen sie befreundet ist. Rebecca Mensch (48) hingegen hat keinen theologischen Hintergrund. Sie sitzt heute als Laie am Tisch und hat eine ganz andere Verbindung zur Akademie: Sie entwarf als Graphikerin das Logo des jungen Instituts.

Talmud-Prinzip für das Neuen Testament

Als getaufte Katholikin suche sie «die Auseinandersetzung mit Gott und der Welt». Dazu sagt sie: «Ich will ein gutes Leben im christlichen Sinne führen aber offen bleiben.» Gemeinsam mit Zinstag führt sie in der Diskussion das erste Talmud-Prinzip im Neuen Testament fort und nennt Jesu Gleichnis von den Vögeln und Blumen, die nicht säten und ernteten und Gott dennoch für sie sorgen werde. – «Umso mehr» eben für die Menschen.

Boas Puder (48) kann wiederum mit Breslauer über die Kohanim diskutieren, jene Untergruppe der Leviten, die ihre Herkunft auf Aaron zurückführen und ihren Dienst am Tempelaltar verrichteten. Auf sie kommt der Kurs durch ein weiteres «qal wa chomer»-Beispiel eines Nicht-Juden, der Tempelpriester zu werden wünscht, zu sprechen; und Puders Schwager ist selbst einer der heute noch existierenden Kohanim.

Den jüdischen Unterricht auffrischen

Puder, der israelischer Staatsbürger ist, nahm bereits im ersten Semester im Herbst 2018 am Angebot der Akademie teil und will seinen jüdischen Religionsunterricht als Kind und Jugendlicher auffrischen: «Ich bekomme hier sehr viel beigebracht. Die Dialektik Breslauers gefällt mir sehr gut.»

Von geringer Resonanz enttäuscht

Eine Handvoll Teilnehmer sitzt heute im dritten von sechs Kursabenden mit Dozent Breslauer am Tisch – abwesend sind drei weitere Teilnehmer. Shabnam Edith Barth verhehlt ihre Enttäuschung über die geringe Resonanz nicht: Sie war als Theologin ebenfalls eine Studentin Breslauers, ist vor allem aber Geschäftsführerin des Trägervereins der Akademie.

Im ersten Semester, als es in drei Kursen um die Gedichte des hebräischen Dichters Yehuda Amichai, um jiddische Märchen sowie um die gemeinsamen Wurzeln und die Abgrenzung von Christen- und Judentum ging, hätten sich bis zu 40 Personen in den kleinen Raum gedrängt. Dieses Jahr musste der Kurs über den «Umgang mit der sexuellen Körperlichkeit in Judentum und Christentum» mangels Teilnehmer sogar gestrichen werden.

Bislang eine ideelle Trägerschaft

Barth vermutet, sie habe das Angebot des zweiten Semesters vielleicht zu spät veröffentlicht. Sie evaluiere den eklatanten Unterschied der Teilnehmerzahl zwischen dem ersten und zweiten Semester derzeit noch. Aber als gerade ein halbes Jahr alte Institution muss sich die Jüdisch-Christliche Akademie in Basel erst noch einen Namen machen.

Gut besuchte Thora-Unterweisungen

Ideell getragen von der Jüdischen Gemeinde Basel und der Evangelisch-reformierten Landeskirche muss sie sich bis jetzt selbst finanzieren. Gut besucht sei jedenfalls die wöchentliche Thora-Unterweisung und -Interpretation mit dem Strassburger und Basler Rabbi Michel Birnbaum-Monheit, die die Akademie Anfang des Jahres als Veranstalterin von extern übernahm.

Namhafte Dozenten

Weitere Dozenten an der Jüdisch-Christlichen Akademie sind die Basler Philologin und Judaistin Meret Gutmann-Grün (Autorin von «Zion als Frau»), Basels Gemeinderabbiner Moshe Baumel, die Elsässer Germanistin und Jiddisch-Professorin Astrid Starck, Ekkehard Stegemann, Theologe mit dem Schwerpunkt auf jüdisch-christlichen Beziehungen, sowie der Theologe, Münsterpfarrer und Kirchenratspräsident der reformierten Landeskirche Basel-Stadt, Lukas Kundert.

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