«In bestimmten Bereichen müssen wir von vorn anfangen»

Pfäffikon ZH, 2.2.19 (kath.ch) Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger beschäftigt viele in der katholischen Kirche. Die Pfarrei St. Benignus im zürcherischen Pfäffikon stellte sich dem schwierigen Thema und lud zu einem Vortrag des katholischen Priesters Stefan Loppacher ein.

Vera Rüttimann

Gut 40 Seelen haben sich am Donnerstagabend im Pfarreisaal eingefunden, um Stefan Loppacher zu lauschen, der als katholischer Priester zum Thema «Sexueller Missbrauch Minderjähriger» promoviert hat. «Es ist schön, dass sich doch so viele hier hineintrauen, um sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen», sagte Karin Reinmüller, Pastoralassistentin an der Pfarrei Benignus. Ein düsteres Thema für die Kirche, das aber leider durch aktuelle Fälle virulent bleibe.

Stefan Loppacher, der als Vikar in Regensdorf bei Zürich arbeitet, sagte denn auch: «Wut, Trauer, Unverständnis – diese Gefühle sind ein Grund, warum es uns so schwerfällt, uns mit diesem Thema zu befassen.» Er habe begonnen, im Pennsylvania-Report zu lesen, der Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in den USA dokumentiere. Schon nach 25 Seiten habe er nicht weiterlesen können, «weil mir die Tränen kamen.»

Ignoranz, Stillschweigen, Dilettantismus

Im Raum stand die Frage: Gibt es kirchenspezifische Strukturen, die ein solches Ausmass an Verbrechen gegen die verletzlichsten Mitglieder der Kirche begünstigt der gar befördert haben? Stefan Loppacher benannte drei zentrale Punkte: Die Kirche habe sich über Jahrzehnte viel mehr Sorgen gemacht über ihren guten Ruf, anstatt den Opfern zuzuhören und Aufdeckungsarbeit zu leisten. Man habe Opfer in vielen Fällen sogar als Gefahr für die Kirche diffamiert.

«Der Skandal war nicht der Missbrauch, sondern dass der Missbrauch ans Licht kam», erklärte Loppacher die damalige Situation. Es gebe bis in diese Tage hinein in der Kirche eine weit verbreitete Hemmschwelle, über das Thema Sexualität zu sprechen. Zudem, und das sei noch viel schwerwiegender, fehle «in vielen Ländern in der katholischen Welt bis heute ein Problembewusstsein für dieses Thema.» Noch immer würden Taten schöngeredet.

Oftmals hätten Kirchenobere auch auf dilettantische Weise versucht, selbst Fälle aufzuarbeiten, ohne Fachleute hinzuzuziehen. Weitere Gründe, die die Aufarbeitung verhindere, sieht Loppacher in der spirituellen Überhöhung von Klerikern und dem schwierigen Verhältnis der Kirche zur Psychiatrie.

Der Zölibat und seine Folgen

An den Referenten ging die Frage: Welche Rolle spielt das Zölibat bei einem sexuellen Missbrauch durch einen pädophilen Priester? Nur bedingt, antwortete Loppacher. Fachleute würden auf Studien verweisen, die besagen, dass Menschen in ihrer Entwicklung zu Pädosexuellen werden, nicht aber erst mit der Priesterweihe. Diese Neigung beginne schon viel früher in ihrer Jugend.

«Dass aber das zölibatäre Leben eine massive Herausforderung für das eigene Intimleben darstellt, ist nicht zu verleugnen», stellte Stefan Loppacher klar. Priester würden meist aus anderen Gründen übergriffig: «Sie können zu Kindern und Jugendlichen schnell eine emotionale Nähe aufbauen, was sie mit Erwachsenen nicht können.» Es gehe vielen Tätern jedoch nie bloss um Sex, sondern um das Ausleben von Macht, um Kontrolle über ihr Opfer.

«Sie wurden Opfer eines massiven Machtgefälles.»

Nie wieder eine Kirche betreten

Die Gäste des Vortragsabends erfahren: Was ein sexueller Missbrauch mit dem Opfern anstellt, war lange unbekannt. Der Zürcher Theologe nannte die Opfer denn auch «Überlebende», denn Opfer sexuellen Missbrauchs seien oft auf Lebenszeit schwer geschädigt. «Sie wurden Opfer eines massiven Machtgefälles, denn ein Kind kann weder physisch, psychisch noch verbal etwas entgegensetzen», so Loppacher.

An dieser Stelle meldeten sich mehre Personen aus dem Publikum, die betonten, dass ihnen als Kinder Priester wie gottgleiche Wesen erschienen. Fehlerhafte Priester bedeuten auch, dass die persönliche Spiritualität und die Beziehung zur Kirche generell Schaden nehme. Stefan Loppacher weiss aus Studien und Gesprächen: «Vielen Opfern ist es auf Lebenszeit nicht mehr möglich, eine Kirche zu betreten. Auch das Wort Gott können sie nicht mehr hören.»

Breit angelegte Studie erwünscht

Die vielen Negativmeldungen rund um Missbrauchsfälle lassen vergessen, so Loppacher, dass die Kirche in den vergangenen Jahren sehr wohl dazu gelernt habe. Er nannte ein Beispiel aus der Jugendarbeit: In seiner Jugend sei es völlig normal gewesen, dass ein Pfarrer allein mit einer Gruppe Ministranten für ein Weekend in die Natur verreist sei. «Heute ist das undenkbar, weil meist Eltern, ein Pastoralassistent oder ein Gemeindebeauftragter dabei ist», sagte er. Hier habe eindeutig ein Wandel im Denken stattgefunden.

In diesem Zusammenhang lobte er die Schweizer Bischofskonferenz, die früher als andere Kirchen das Problem sexueller Missbrauch angegangen sei. Bereits im Dezember 2002 habe sie erste Richtlinien für die Diözesen zu sexuellen Übergriffen in der Seelsorge veröffentlicht. Stefan Loppard würde es begrüssen, wenn es, ähnlich dem Pennsylvania-Report, auch in der Schweiz eine breit angelegte Studie zum Thema sexueller Missbrauch in der Kirche geben würde.

Fast alles muss sich ändern

Sein Vortrag habe kein Happyend, resümierte der Referent. Er habe keine fertigen Lösungsvorschläge für die Kirche, was sie tun könne, um aus diesem Sumpf wieder heraus zu kommen. «Wenn Sie mich heute fragen, was sich in der Kirche ändern muss, dann kann ich nur sagen: fast alles», so Loppacher.

«Wir sollten alles dafür tun, um weitere Verbrechen zu verhindern.»

Aus dem Publikum kam die Frage: «Wo anfangen?» Stefan Loppacher forderte: Probleme erkennen, sich den Realitäten stellen und mit Fachleuten zusammenarbeiten. Aus den Redebeiträgen des Publikums kristallisierte sich die Frage heraus: Kann die Kirche diesen Flurschaden, der durch die sexuellen Missbräuche entstanden sind, je wieder gut machen? Loppacher gab sich skeptisch. Die Kirche habe, ist er überzeugt, nicht mehr so viel Zeit, um etwas gut zu machen.

«In vielen Fällen wurde eine Existenz unwiederbringlich zerstört.»

«In bestimmten Bereichen müssen wir mehr oder weniger von vorn anfangen», sagte er gar. Der grosse Schaden ist für ihn nicht am Image der Kirche und ihrer öffentlichen Reputation passiert, sondern an jedem einzelnen Opfer. «In vielen Fällen wurde ihre Existenz unwiederbringlich zerstört.» Sein Fazit: «Wir sollten daher alles dafür tun, um weitere Verbrechen zu verhindern.»

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