Caritas durchleuchtet Risiken und Chancen der Digitalisierung

Bern, 26.1.19 (kath.ch Das Gespenst der Digitalisierung geht um in Europa. Die Transformation auf dem Markt löst Unsicherheit aus. Solidarität und Gerechtigkeit werden auf den Prüfstein gestellt. Deshalb richtete die sozialpolitische Tagung der Caritas Schweiz im Eventforum in Bern den Fokus am Freitag auf die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Vera Rüttimann

Der grosse Saal im Eventforum im Bern war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Dirk Helbling, Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften an der ETH Zürich, zu seinem Referat an der Caritas-Tagung ansetzte. Der Deutsche sieht mit der Digitalisierung grosse Gefahren aufziehen.

Er skizzierte eine monopolartige Marktsituation, die einigen wenigen Tech-Firmen gigantische Gewinne durch Daten und Softwares einbringen würde. Klassische Geschäftsmodelle sieht er immer mehr im Hintertreffen. Der Turbokapitalismus sei derzeit in voller Fahrt.

«Digitalisierung muss politisch gestaltet werden.»

Dirk Helbling mahnte: «Ohne Gegensteuer werden sich diese Konzentrationsprozesse, die viele Verliere kennen, beschleunigen.» Dieser Einschätzung schloss sich auch Vania Alleva, Präsidentin Gewerkschaft Unia und Vizepräsidentin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, mit ihrem Referat an.

Digitaler Kapitalismus versus soziale Digitalisierung

Vania Alleva kritisierte allerdings, dass viele Medien im Kontext mit der digitalen Revolution meist nur Horrorszenarien verbreiten würden. «Diese Sichtweise ist mir zu einseitig und sie setzt Arbeitnehmer dadurch unter grossen Druck», betonte sie.

Für Vania Alleva stehen sich aktuell zwei konträre Modelle gegenüber: Hier der «digitale Kapitalismus», der mit neoliberalen Geschäftsmodellen die Profitmaximierung anstrebe und prekäre Arbeitsverhältnisse schaffe. Auf der anderen Seite die «soziale Digitalisierung», die durch kluge Technologien alle am Fortschritt teilhaben möchte.

«Google und andere Tech-Konzerne nehmen gewerkschaftsfeindliche Haltung ein.»

Die Gewerkschaftspräsidentin glaubt nicht an die pechschwarze Prognose, dass es zu massiven Verdrängungen von Jobs auf allen Qualifikationsniveaus kommt. «Es gibt Zahlen, die sogar von einem Beschäftigungszuwachs in einzelnen Segmenten sprechen», sagte sie. Vania Alleva nannte Dienstleistungsbereiche, wo ein hohes Mass an sozialen Interaktionen gebraucht werde.

Was bei den Gewerkschaften jedoch klar erkannt werde, sei der Fakt: «Um die Chancen der Digitalisierung für die Konsumenten zu nutzen, muss sie politisch gestaltet werden.» Gerade hier aber stehlen sich, so Vania Alleva, die Arbeitgeber meist aus ihrer Verantwortung heraus.

Ein langer Forderungskatalog

Durch die zunehmenden Risiken sei es deshalb zentral wichtig, so Vania Alleva, dass die Gewerkschaften in der Schweiz mit ihren Mitgliedern darum kämpfen, dass die Digitalisierung sozial gestaltet werden könne. Dementsprechend ist der Forderungskatalog lang und herausfordernd. «Google und andere Tech-Konzerne nehmen eine extrem gewerkschaftsfeindliche Haltung ein», unterstrich Alleva.

Das Ziel, das die Gewerkschaften mit den anderen Akteuren der Zivilgesellschaft anstreben, sei die soziale Digitalisierung. Voraussetzungen dafür seien unter anderem: Faire Entlöhnung und Verteilung der Arbeit, die entschlossene Förderung der Aus- und Weiterbildung und eine an der Work-Live-Balance orientierte Arbeitszeit sowie die Förderung von sozial benachteiligten Schichten.

«Die Massnahmen seitens der Politik sind grösstenteils ungenügend.»

Ganz zentral wichtig seien die Mitwirkung und Mitbestimmungsrechte für die Beschäftigten in den Betrieben. Vinia Alleva benannte schliesslich die Hauptforderung: Die arbeitsrechtliche Regulierungen aller digitalisierten Jobs mittels Gesamtarbeitsverträgen.

Neue Armut 4.0?

Bettina Fredrich, Leiterin Sozialpolitik bei der Caritas Schweiz, referierte zum Thema «Digitalisierung verorten: Neue Armut 4.0?» Herkömmliche Arbeitsplätze verschwinden und die Anforderungsprofile auf dem Arbeitsmarkt verändern sich. Lebenslanges Lernen sei angesagt.

Aus dem Publikum kamen Fragen wie: Wie beurteilt der Bund die Entwicklung? Welche Massnahmen werden ergriffen? Viele Studien besagen, so Bettina Fredrich, dass die Schweiz auf Kurs sei. Es gebe hier keine Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen. «Das Seco kommt auch zum Schluss, dass wir uns nicht so grosse Sorge machen müssen», erläuterte sie.

«Social Media Kanäle leisten oftmals einen Beitrag zur Verrohung der Gesellschaft.»

Da sei, so die Sozial-Expertin, allerdings nur die halbe Wahrheit. 40’000 Menschen würden pro Jahr ausgesteuert. Ältere, Niedrigqualifizierte und Alleinerziehende seien von Bildungsangeboten zur Erlangung digitaler Kompetenz nicht selten ausgeschlossen. Bettina Fredrich bilanzierte: «Die Politik hat die Wichtigkeit von Weiterbildung zwar klar erkannt. Die Massnahmen seitens der Politik jedoch sind grösstenteils noch ungenügend.» Freiwillige Weiterbildung reiche heute nicht mehr aus.

Hoffnungen nicht erfüllt

Welche Gefahren stellen die sozialen Medien für Gesellschaft und Politik dar? Das wollte das Publikum von Adrienne Fichter, Politologin und Social-Media-Expertin wissen. Die junge Journalistin, die für das Online-Magazin «Republik» schreibt und unter dem Titel «Facebook, Twitter & Co» ihre Einschätzungen erläuterte, betonte, dass es noch nie so einfach sei, via Internet Hassbotschaften und Fake News zu verbreiten.

«Twitter-Präsident» Donald Trump

«Social Media Kanäle wie Twitter, Facebook, Youtube leisten oftmals einen Beitrag zur Verrohung der Gesellschaft», sagte sie. Zudem entstünden vielerorts statt Zusammenhalt soziale Vereinzelung.

Zudem hat sich das Internet laut Adrienne Fichter «nicht wie einst erhofft, zum Refugium für demokratische Debatten und Transformationen entwickelt». Das unrühmlichste Beispiel sei «Twitter-Präsident» Donald Trump, der mit seinen «Fake-News!»-Rufen etablierte Medien desavouiere und selbst bewusst Unwahrheiten in Umlauf bringen würde.

Adrienne Fichter vermerkte jedoch auch positive Entwicklungen: «Das Internet hat auch neue Formen der Partizipation und Mobilisierung ermöglicht.» Die Social-Media-Expertin führte als Beispiele die «Occupy-Wall-Street-Bewegung» und die «me-too»-Bewegung auf.

Digitalisierung mitgestalten

Welche Jobs werden durch Roboter ersetzt? Und: Kann man ihnen Empathie beibringen. Es gab noch viel Gesprächsbedarf an dieser Tagung. Zum Schluss waren sich Referenten und Mitdiskutanten aus dem Publikum einig: Die Digitalisierung ist Herausforderung, Risiko und Chance in einem.

«Ich hoffe, dass wir den Pfad in Richtung einer sozialen Digitalisierung gehen.»

Sowohl Dirk Helbling wie Hugo Fasel, Direktor der Caritas Schweiz, betonten, es gehe jetzt darum, das Zepter nicht allein den grossen Tech-Giganten zu überlassen, sondern die Transformation verantwortungsvoll mitzugestalten.

Unia-Präsidentin Vania Alleva resümierte: «Die Digitalisierung birgt eine Chance für eine bessere Zukunft. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam den Pfad in Richtung einer sozialen Digitalisierung gehen.» (aktualisiert, 28.1.19)

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