Reformierte und Katholiken feiern im Grossmünster die Bibel

Zürich, 21.1.19 (kath.ch) In einem gemeinsamen und gut besuchten Gottesdienst haben die reformierte und die katholische Kirche im Grossmünster an den Beginn der Reformation vor 500 Jahren erinnert, als Huldrych Zwingli seine Predigttätigkeit in Zürich aufnahm. Im Zentrum der Feier vom Sonntag standen die Bibel und die Bedeutung, die sie heute noch für Menschen hat.

Vera Rüttimann

Die Menschen, die bei tiefen Temperaturen in einer Schlange vor den Pforten des Zürcher Grossmünsters auf Einlass warteten, standen bis in die Altstadtgassen hinein. Die Gäste, die alsbald die Kirchenbänke füllten, um dem Festgottesdienst zu «500 Jahre Reformation in Zürich» beizuwohnen, kamen aus unterschiedlichen kirchlichen, politischen und religiösen Kreisen aus Stadt, Kanton und der ganzen Schweiz. «Heute Nachmittag sind wir eine Gemeinde», sagte Pfarrerin Monika Frieden in ihrem Grusswort.

Unterhaltsamer ökumenischer Disput

Auf dem Podium stellten sich in einer Art ökumenischem Rollenspiel der katholische Generalvikar Josef Annen und der reformierte Kirchenratspräsident Michel Müller dem Publikum. Pfarrerin Bettina Lichtler agierte in der Rolle als «Bibel», die mit frechen Fragen immer wieder dazwischen züngelte.

Michel Müller erinnerte eingangs daran, dass die Reformation Zwinglis hier an diesem Ort vor 500 Jahren alles umkrempelte. «Weder Schmuck, farbige Kleider und Bilder noch Musik sollten ablenken vom Wort Gottes.» Ein radikales Programm sei das gewesen, das die gesamte Gesellschaft in Zürich und anderswo umgekrempelt habe. Michel Müller zeigte auf den Hochchor im Münster, wo die Bibel übersetzt wurde und anschliessend bei Froschauer mit einer Druckerpresse gedruckt wurde.

Zwei Bücher aus Bibel entfernt

Die Froschauer-Bibel und die neue Ausgabe der Zürcher Bibel wurden am Anfang des Gottesdienstes denn auch feierlich durch das Grossmünster getragen. Auch bei den Katholiken, so betonte Josef Annen, werde die Heilige Schrift auf diese Weise durch die Kirche getragen.

«Weder Schmuck und farbige Kleider noch Musik sollten ablenken vom Wort Gottes.»

Die «Bibel» fragte von der Kanzel herab forsch: «Sprecht ihr denn wirklich mit einer Stimme?» Was sei denn nun mit den Büchern Tobit, Judith oder Jesus Sirach, die bei den Katholiken in der Bibel, vorhanden seien, bei den Reformierten jedoch nicht? Michel Müller entgegnete: «In reformatorisch Übereifer hat man später auch diejenigen Bücher des Alten Testaments aus der Bibel geworfen, die original nicht hebräisch geschrieben wurden.» Heute nun aber feiere man hier die erweiterte Ausgabe der Zürcher Bibel. Michel Müller sagte: «Damit wird die neue Zürcher Bibel zu einer fast vollständig ökumenischen Ausgabe.»

Wiederentdeckung der Bibel

Josef Annen erinnerte an den Umstand, dass bei Ausbruch der Reformation in vielen Pfarrhäusern noch gar keine Bibeln lagen und Lesungen in der Kirche in Latein waren. Wie befreiend und erkenntnisreich, so Annen, habe es für das gläubige Volk gewesen sein müssen, als Zwingli die Bibel von der Ursprache ins Deutsch übersetzte. «Zwingli und Luther waren von der unmittelbaren Wucht der Paulusworte zutiefst betroffen.»

Als Generalvikar sagte er Worte, die aufhorchen liessen: «Die Reformation hat die Bibel neu zum Leben erweckt und unter die Leute gebracht. Damit verdankt die katholische Kirche der Reformation die Wiederentdeckung der heiligen Schrift.» Die Bibel sei auch für Katholiken die höchste Richtschnur des Glaubens.

Pfarrerin Bettina Lichtler funkte als «Bibel» mitten in die wohlige Harmonie hinein mit dem Satz: «Mir scheint, ich komme bei den Katholiken in Gottesdiensten inzwischen mehr zu Wort als bei den Reformierten?» Das liess Michel Müller nicht auf sich beruhen und betonte, er sehe in zu viel Einigkeit auch ein Risiko. «Wenn die Bibel alleinige Richtschnur ist, dann öffnet sie die Tür für Fundamentalisten auf der einen Seite, und Relativismen auf der anderen Seite.»

Nicht alles mit der Bibel begründen

Es sei riskant, wenn man alles mit der Bibel begründen könne. Wie beispielsweise die Diskussion rund um die Ordination von Frauen und Homosexuellen. Oder die Legitimation des Zölibats. Michel Müller erntete heftiges Nicken, als er sagte: «Dass seine Abschaffung bis heute nicht möglich ist bei der römischen Kirche, lässt bei vielen von uns die Augen rollen.» Die Bibel allein kläre eben nicht alles. Ohne die Auseinandersetzung mit Bekenntnissen und der katholischen Tradition, so Michel Müller, hätten sich die Reformierten «möglicherweise im Nichts verloren».

Stolperstein, Trittstein und Richtschur

Besonders gespannt waren die Besucher der Reformations-Feierlichkeiten, wie es die Diskutanten vorne auf dem Podium persönlich mit der Bibel halten. Der Theologe Christoph Stübi hat zu ihr ein ambivalentes Verhältnis. Es gebe Zeiten, da diene die Bibel ihm als Trittstein, um höher hinaus zu gelangen. Dann wiederum sei sie mehr Stolperstein.

Dennoch habe dieses Buch aus ihm denjenigen gemacht, der er heute sei: «Gerade weil ich mit der Bibel immer wieder hadere, habe ich gelernt, gute Fragen zu stellen.» Ähnlich ergeht es Bettina Geuer, die betonte: «Manches in der Bibel schmeckt wirklich köstlich, anderes ist gar nicht gut zu verdauen.» Doch ihr sei die Bibel Richtschnur und Orientierung.

Michel Müller wiederum erzählte, wie er als 12-jähriger die sprachliche Kraft der Bibel entdeckt und mit seinem Taschengeld seine erste Bibel gekauft habe. «Ich habe in einem Schaukelstuhl das Matthäus-Evangelium in einem Stück durchgelesen», berichtete er.

«Im Schaukelstuhl das Matthäus-Evangelium gelesen»

Generalvikar Josef Annen erzählte sichtlich begeistert, wie er als Junge in der Primarschule Bibelgeschichten wie diejenige vom brennenden Dornbusch entdeckt habe, die ihn ihm bis heute nachwirken. Biblische Geschichten seien für ihn «heilige Resilienz, Kapsel innerer Widerstandskraft und Potential für neue Lebensenergie». Es sei, so kritisierte Joseph Annen, ein Kulturverlust, wenn Kinder und Jugendliche ohne Kenntnis des Wortes Gottes aufwachsen würden.

Manchmal, das waren sich alle Diskutanten einig, ist die Bibel auch heiliger Protest. Josef Annen betonte: «Deshalb treten wir auch als Kirchen gemeinsam auf mit Stellungsnahmen, wenn Menschenrechte in Gefahr sind.»

Revolutionäre Kraft

Da war sie wieder, die gemeinsame Stimme. Michel Müller unterstrich denn auch: «Uns ist viel mehr gemeinsam, als uns noch trennt.» Zu dieser Grundstimmung passte, dass gleich fünf Chöre mit Stimmen aus allen Generationen und Vertonungen aus ganz verschiedenen Jahrhunderten das Bibelwort zum Klingen brachten. Doch Michel Müller fragte kritisch: «Haben wir begriffen, welche revolutionäre Kraft im Wort Gottes auch heute noch liegt?» Josef Annen entgegnete ihm mit einem Satz von Papst Franziskus, das von seinem Besuch 2018 in der Schweiz stammt und dem er ganz zustimmen könne: «Was wir wirklich brauchen ist ein neuer Schwung in der Verkündigung des Wort Gottes.»

Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist entliess die Festgemeinde schliesslich mit den Worten von Dietrich Bonhoeffer: «Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag. Gott ist bei uns, am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.»

Griesbrei nach dem Gottesdienst

Das Volk strömte danach hinaus auf den Zwingli-Platz und verköstigte sich an offenen Feuerschalen mit einer Art Griesbrei, den es schon zu Zeiten Zwinglis-Zeiten gab. In der Helferei wurde die Neuausgabe der Zürcher Bibel durch Experten präsentiert. Im Grossmünster drängten sich viele Interessierte um eine Druckerpresse, bei der sie ihre persönliche Bibelseite mit Hilfe von Holzschnitten der Original-Froschauer-Bibel drucken konnten. In einem anderen Bereich des Münsters erhielten Besucher Einblick in den Trailer des neuen Zwingli-Films.

Zwingli hätte es gefallen

Reformationsbotschafterin Catherine McMillan, war noch ganz bewegt vom Festgottesdienst, als sie resümierte: «Ich denke, er war wohl ganz im Sinne von Zwingli, der das Wort Gottes wieder an die Mann und an die Frau bringen wollte. Und das hat dieser Gottesdienst heute gemacht.»


Das Gemeinsame feiern ist ein wichtiges Zeichen

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