«Ich fühle mich als ökumenischer Christ»

Zürich, 20.11.18 (kath.ch) Der deutsche Regisseur Wim Wenders war Ehrengast am diesjährigen Filmfestival in Zürich und wurde dort mit einer Retrospektive seiner Filme und einem Preis für sein Lebenswerk geehrt. Im Interview mit kath.ch spricht er über seinen Glauben, das Kino und seine Erfahrungen mit Papst Franziskus, über den er einen Dokumentarfilm drehte.

Sarah Stutte*

Sie wollten in jungen Jahren Priester werden. Warum ist daraus nichts geworden?

Wim Wenders: Dieser Berufswunsch verflüchtigte sich sehr abrupt mit der Ankunft des Rock ‘n’ Roll in meinem Leben. Die Musik war eine grosse Verlockung, und ich gab ihr nach. Es waren die frühen 60er mit den Beatles, mit Bob Dylan – das war meine Generation, nach dem gleichnamigen Song von The Who. Und meine Generation bestimmte für sich neu, was sie wollte, und so machte ich das auch. Aber ich bin kein Atheist geworden. Zwar habe ich die katholische Kirche 1968 als Soziologie-Student verlassen. Ich trat aber in den späten 80ern durch die andere Tür des Christentums wieder ein und konvertierte zum Protestantismus.

«Ich bin kein Atheist geworden.»

Und warum?

Wenders: Weil ich an Gott glaube. Ich glaube nicht an die Kirche. Ich fühle mich als ökumenischer Christ. Organisierte Religion bringt viele Probleme mit sich und hält viele Menschen davon ab, mit Gott in Verbindung zu treten.

Glauben Sie daran, dass Kino eine Kirche ist?

Wenders: Kino hat viele Funktionen und ist ein mächtiges Instrument. Es kann auch, wie vieles andere, eine Kirche sein. Und in der Vergangenheit war es das oft. Einige der Filmemacher, die ich bewundere, machten sehr spirituelles Kino. Regisseure wie der Däne Carl Theodor Dryer, der Franzose Robert Bresson oder der sowjetische Regisseur Andrei Arsenjewitsch Tarkowski.

«Organisierte Religion hält viele davon ab, mit Gott in Verbindung zu treten.»

Filme können heute alles sein und über alles reden. Das sollten sie auch. Ich bin sehr betrübt darüber, dass die Definition des Kinos auf eine seltsame Art jetzt begrenzter ist als jemals zuvor. Sie wird immer mehr auf Unterhaltung reduziert, doch Filme können viel mehr sein als das. Sie können uns erzählen, dass wir bessere Menschen sein können, und sie zeigen uns manchmal auch eine bessere Welt.

Für Ihren Film über Papst Franziskus haben Sie ihn über einen Monitor acht Stunden lang interviewt. Was war Ihr persönlicher Eindruck von ihm?

Wenders: Dass er zu allen spricht. Er adressiert seine Botschaften nicht ausschliesslich an Katholiken oder Christen. Er hört sich nicht radikal an, sondern ist ruhig und freundlich. Ich glaube, dass Papst Franziskus nicht die Kirche repräsentiert, sondern Menschen, die guten Willens sind. Er versucht Frieden zwischen den Religionen wachsen zu lassen, weil es zuletzt nicht viel Frieden zwischen den Religionen gab. Das ist eine enorme Aufgabe, der er sich versucht zu stellen. Der Papst geht überall dorthin, wo es weh tut, und das ist mutig.

Wie hat das Treffen mit dem Papst Ihren eigenen Glauben beeinflusst?

Wenders: Es hat meine Einstellung geändert, weil ich realisiert habe, dass dieser Mensch keine Angst hat. Er hat nicht nur Mut, er ist wirklich furchtlos. Ich habe gemerkt, dass einige meiner Filme von Angst getrieben waren. Er hat mich gelehrt, furchtloser zu sein.

Was sagen Sie zur Kritik an Papst Franziskus? Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Film einen neuen kirchlichen Dialog öffnen konnte?

Wenders: Papst Franziskus ist ein Mann von unglaublicher Offenheit. Ich denke, er meint Null-Toleranz, wenn er über Pädophilie spricht. Er will diese starre Organisation in etwas Transparentes umformen. Ein grosser Teil der Kirche ist gegen Transparenz und gegen die Öffnung. Viele seiner Kritiker sind Menschen, die seine Politik schon vorher nicht mochten.

«Der Papst hat mich gelehrt, furchtloser zu sein.»

Ich denke, wir erleben derzeit einen grossen Kampf. Einen Kampf von Menschen, die nicht die Kirche wollen, die der jetzige Papst repräsentiert. Die Offenheit und Zärtlichkeit, für die er steht. Er hält an seiner Meinung fest, aber es ist sehr schwierig für ihn, gegen die konservativen Kräfte in seinen eigenen Reihen einerseits zu kämpfen und auf der anderen Seite gegen die ganze sogenannte liberale Welt.

Wie kraftvoll ist die Botschaft des Papstes in unserem digitalen, schnelllebigen Zeitalter? Kann sie uns wirklich erreichen?

Wenders: Einer seiner Hauptbotschaften ist die Nähe zu den Menschen, das Zuhören und in Kontakt sein. Nähe ist in unserer heutigen Zeit zu einem grossen Luxus geworden. Eines der grossartigsten Dinge, die der Papst im ganzen Interview gesagt hat, war etwas sehr Kleines. Wenn er einer jungen Mutter oder einem jungen Vater die Beichte abnimmt, fragt er sie, ob sie genug Zeit mit ihren Kindern verbringen.

«Unsere digitale Abhängigkeit isoliert uns.»

Viele junge Eltern verpassen es, ihre Kinder am Morgen und am Abend zu sehen. Das ist, zu einem nicht unwesentlichen Teil, der digitalen Lawine geschuldet, die uns täglich begräbt. Woraus resultiert, dass wir so überladen sind mit Informationen und immer so viele Dinge gleichzeitig zu tun haben. Doch unsere digitale Abhängigkeit isoliert uns und lässt Nähe verschwinden. Das Bedürfnis, Menschen kennenzulernen, Zeit mit ihnen zu verbringen, verschwindet. Ich weiss nicht, ob der Papst daran etwas ändern kann. Doch darin liegt die grosse Herausforderung unserer Zeit, die Dinge und Menschen um uns herum wieder wahrzunehmen.

*Sarah Stutte ist Filmjournalistin und schreibt unter anderem Filmtipps für www.medientipp.ch.

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https://www.kath.ch/newsd/ich-fuehle-mich-als-oekumenischer-christ/