«Das ‹Böse› ist nur ein Symptom von Leid»

Basel, 13.09.18 (kath.ch) Der streitbare Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann sprach in Basel über die bedingungslose Menschenliebe Jesu, die zum Umdenken in Strafjustiz, Wirtschaft und Friedenspolitik führen müsste.

Boris Burkhardt

Er zitiert Sokrates, Kierkegaard, Darwin, Goethe, John Wayne, Gandhi, Carl Gustav Jung – und Bibelstellen aus dem Gedächtnis: Kritiker werfen dem streitbaren Theologen und Psychoanalytiker Eugen Drewermann vor, bei der Wahl seiner Zitate beliebig zu sein; in seinem Vortrag in der vollbesetzten christkatholischen Predigerkirche in Basel am Mittwochabend folgte der 78-Jährige aber durchaus einem roten Faden, als er verschiedene politische und gesellschaftliche Aspekte wie Strafjustiz, Kapitalismus und Krieg unter dem Gesichtspunkt betrachtete, was Jesus mit seiner Botschaft der bedingungslosen Liebe eigentlich gemeint habe – und die Kirchen schon lange aus den Augen verloren hätten.

Zuspruch unbedingten Trostes

Bezugspunkt für Drewermanns Vortrag ist die die Taufe Jesu im Jordan, bei dem Gott ihm die Zusage gibt: «Du bist mein Sohn.» Diesen Zuspruch unbedingten Trostes gibt Jesus laut Drewermann an die Menschen weiter. So sei es damals für Jesus gefährlich geworden, weil er «die grenzenlose Menschlichkeit» gelebt habe.

Im Israel vor 2000 Jahren sei er vor allem als unerhört empfunden worden, weil er den gesetzlichen und kultischen Bestimmungen die alleinige Autorität abgesprochen habe: «613 Gesetze Mose und 2000 Zusatzkommentare zur Anwendung auf Alltagssituationen: All das machte Jesus zunichte, weil Gott ein guter Mann ist.» Jesus habe in der Bergpredigt selbst betont, dass sich «kein Jota des Gesetzes» ändern werde: «Aber der Mensch braucht zum Leben andere Grundlagen als Gesetze.»

Den Täter nicht bestrafen

Die Definition von Sünde als Bruch mit Gottes Gebot, der bestraft werden muss, will Drewermann mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard als «Verzweiflung» neu interpretieren: «‹Böse› Menschen handeln unter innerem Zwang, weil sie in der Gesellschaft in einem Getriebe feststecken, das sie selbst nicht durchschauen.» Man sollte Täter nicht bestrafen, sondern mit beiden Armen umfangen: «Das ‹Böse› ist nur ein Symptom von Leid.»

Drewermann begründet diese Ansicht mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf, für das der Schäfer seine Herde verlässt und es sucht, bis er es findet. Jesus wolle Asylstätten des Verständnisses für die Menschen schaffen, wo man nur gefragt wird: Wer bist du selbst? Was hast du erlebt, dass du so bist?» Diese Liebe und dieses Verständnis riefen auch in kriminellen Tätern eine Form von Selbsterkenntnis hervor.

«Wie tröstet man einen Verzweifelten? Jesu Botschaft ist psychotherapeutisch.»

Aus dem Konzept dieser «Asylstätten» ergibt sich für Drewermann seine gesellschaftlich gesehen wichtigste Aussage: «Jeder Mensch, auch wenn er kein Christ ist, braucht die Botschaft Jesu, weil er Mensch ist.» Weil der Mensch in der Natur überflüssig sei (»Sie braucht uns nicht.») und in der Gesellschaft nur zur Verbesserung des Bruttoinlandprodukts eingespannt werde (»Streng dich an!»), könnten wir Menschen Gottes Botschaft von der bedingungslosen Liebe nur in Jesu vernehmen. «Unsere Gerechtigkeit hilft den Menschen nicht weiter», sagte Drewermann: «Wie umfängt man einen Verlorenen? Wie tröstet man einen Verzweifelten? Jesu Botschaft ist psychotherapeutisch.»

Kein Frieden im Kapitalismus

Den zweiten Teil des anderthalbstündigen Vortrags, der von den gut 400 Zuhörern in aufmerksamer Stille verfolgt wurde, widmete Drewermann der Kapitalismuskritik. Wer den Kapitalismus akzeptiere, akzeptiere, dass Menschen, die durch ihre Voraussetzungen gesegnet seien, aus der Not anderer Menschen mit weniger guten Voraussetzungen Profit schlügen. Deshalb werde es keinen Frieden geben, solange der Kapitalismus regiere.

«Die Definition, dass Frieden die ‹Balance of Power› sei, wischte Jesus von der ‹Tafel der Geschichte›»: Wenn die Menschen einander im Sinne der erwähnten «Asylstätten» verstehen würden, gäbe es laut Drewermann keinen Grund für Krieg mehr. Auch Gandhi habe in diesem Sinne Frieden nicht als «Ziel», sondern als «Methode» definiert.

Redeverbot bei Katholiken

Drewermann betonte mehrfach, wie dankbar er für die Gelegenheit sei, in Basel in einer christkatholischen Kirche sprechen zu dürfen: Laut eigener Aussage hat er in sämtlichen Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche Redeverbot. Der Abend wurde dennoch von der Römisch-katholischen Kirche in Basel-Stadt initiiert und in Zusammenarbeit mit der christkatholischen Gemeinde Basel organisiert.

Kernthesen der Drewermann-Theologie

Die Themen, die der gebürtige Nordrhein-Westfalener Drewermann in Basel ansprach, sind Kernthesen seiner Theologie. Er überwarf sich mit der Römisch-Katholischen Kirche, aus der er 2005 austrat, vor allem, weil er Wunder, Himmelfahrt, Jungfrauengeburt und selbst die Auferstehung als psychologische Symbole und keine «Ereignisse in der sogenannten Wirklichkeit der äusseren Tatsachen» deutet.

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