Verbindungen schaffen als zentrale Aufgabe der Kirche in säkularen Zeiten

Lausanne, 11.9.18 (kath.ch) Die Macht der Kirche ist seit langem dahin. Während viele einer «christlichen Gesellschaft» nachtrauern, sehen andere eine Chance in dieser Entwicklung. Zu diesen gehört René Knüsel, Soziologieprofessor an der Universität Lausanne. Er referierte am «Vernetzungsanlass der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz» zum Thema «Supermarkt oder Comestibles? Kirche im Spannungsfeld von Vielfalt und Profil» vom Montag in Bern. cath.ch hat im Vorfeld mit ihm gesprochen. 

Pierre Pistoletti

Wie kann sich die Kirche in der heutigen Vielfalt profilieren? So lautete das zentrale Thema des Abends in Bern. Dieses gehöre zwar nicht zu seinen engeren Forschungsfeldern, so Knüsel. Dennoch räumte er im Gespräch mit cath.ch eine gewisse Nähe zur Kirche ein.

René Knüsel weist zunächst auf die industrielle Revolution und auf die wachsende Bedeutung des Individuums hin. «Seit dem 19. Jahrhundert ist die Kirche ihrer Macht beraubt.» Ihre Autorität in der Gesellschaft wurde schrittweise reduziert. Ihre Macht sei stark an geographische Gebiete gebunden gewesen. «Damals waren wir als Waadtländer automatisch Reformierte. Heute ist das nicht mehr der Fall», sagt der Soziologe.

Verbindung zum Spirituellen und zur Gefühlswelt

Eine der grossen Schwierigkeiten der Kirche ortet Knüsel in ihrer territorialen Verankerung. «Unsere Wahrnehmung von Gegenden hat sich komplett verändert. Die Kirche verharrt jedoch in ihren Überlegungen in der geographischen Sichtweise.» Knüsel spricht damit die Organisation in Bistümer und Pfarreien an.

Was bleibt aber, wenn diese territoriale Macht zerfällt? «Die Fähigkeit, Verbindungen zu schaffen», antwortet der Soziologe. Diese Fähigkeit müsse die Kirche wiederentdecken. Den kirchlichen Gemeinschaften obliege die Aufgabe, neue Verbindungen zum Spirituellen, zur Gefühlswelt und zum sozialen Bereich zu schaffen.

Unangenehme Fragen stellen

«Die Kirche hat eine wichtige Rolle in der Gesellschaft», fährt der Soziologieprofessor fort. Sie ist aufgerufen, unangenehme Fragen zum sozialen Funktionieren der Gesellschaft zu stellen, ohne gleichzeitig moralische Antworten zur «Lösung» anzubieten. Der Soziologe nennt ein konkretes Beispiel: «Anstatt eine moralische Antwort auf Homosexualität zu geben, sollte die Kirche die Frage nach dem Umgang mit Homosexuellen in der heutigen Gesellschaft stellen.»

Die Kirche könne sich in einem weiten Feld an Themen einbringen. «Die Kirche ist berufen, ihre Stimmen beim Leben, beim Tod und in Sinnfragen zu erheben» – dies besonders in einer Zeit, in welcher sich existentielle Fragen von der Religion emanzipieren und die Menschen ihre Antworten in «sozialen Einrichtungen oder in Praxen von Psychologen suchen».

Ohne Priester zurechtkommen

In diesem Zusammenhang könnte sich die «Krise» als Chance für die christlichen Gemeinschaften erweisen. René Knüsel bemerkt jedoch: «Stattdessen will man weiterhin sein Territorium sichern, die Mauern, obwohl die Kirchen sich leeren. Im Grunde glaube ich, dass es nicht so ins Gewicht fällt, wenn die Kirchen sich leeren, sofern die Gemeinschaft an einem anderen Ort weiterhin besteht. Aber lebt sie durch sich selbst? Da bin ich mir nicht sicher. Unsere Gemeinschaften reduzieren sich auf Rituale, die von Priestern gefeiert werden, von denen es immer weniger gibt. Aber auch ohne Priester sollten die Gemeinschaften in der Lage sein zurechtzukommen.»

«Umverteilung der Macht»

Der Soziologe fordert daher einen radikalen Wandel, der über die «Umverteilung der Macht» erreicht werden soll. Die Herausforderung dabei: Es gelte «wieder zu entdecken, dass die Gemeinschaft in jedem ihrer Mitglieder missionarisch ist». (cath.ch/Übersetzung: gs)

René Knüsel ist Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lausanne.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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