Wenn der Schutz der Institution Kirche über dem Schutz der Opfer steht

Stellungnahme der IG Feministische Theologinnen zu den Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche

Der Klerikalismus der römisch-katholischen Kirche ist eine der Hauptursachen für die zahlreichen Missbrauchsskandale, die immer wieder zutage treten. Die IG Feministische Theologinnen fordert deshalb die Schweizer Bischofskonferenz auf, die klerikalen Strukturen kritisch zu überdenken und sie als Faktoren des Machtmissbrauchs zu verstehen und zu benennen. Sie fordert sie weiter auf, Massnahmen für Strukturreformen zu ergreifen, die über Sexualkurse für Priester und andere Präventionsarbeit hinausgehen.

Einmal mehr erschüttert ein Bericht über massiven sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche die Welt. Während der letzten siebzig Jahre haben in Pennsylvania 300 Priester Kinder, vor allem Knaben, aber auch Mädchen, missbraucht. Es wird von mindestens 1000 Kindern ausgegangen, die sexualisierte Gewalt durch Priester erlitten haben, d.h. sexuell belästigt, begrapscht oder vergewaltigt wurden. Kirchenobere und der Vatikan haben diese Verbrechen gedeckt und straffällige Priester routinemässig in andere Diözesen versetzt. Selbst Papst Franziskus, der seit seinem Amtsantritt für ein härteres Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche aufruft, gerät nun in Verdacht, von einzelnen Missbrauchsfällen gewusst und diese vertuscht zu haben.

Die Glaubwürdigkeit der römisch-katholischen Kirche steht auf dem Spiel. Denn obwohl Mitte der 1990er Jahre, als die ersten Missbrauchsfälle publik wurden, Ortsbischöfe und der Vatikan ankündigt hatten, von nun an die «Verfehlungen» lückenlos aufzuklären und die schuldigen Priester zur Verantwortung zu ziehen, wird offenbar an vielen Orten immer noch vertuscht und «Schadensbegrenzung» versucht. Oberstes Ziel, so scheint es, ist der Schutz der Institution Kirche und nicht der Schutz der Menschen beziehungsweise der Opfer. Diese Haltung hat System. Die «heilige» Ordnung der einen, römisch-katholischen Kirche steht über allem. So werden Frauen mit theologisch unhaltbaren Argumenten von der Priesterweihe und der klerikalen Hierarchie – der Heiligen Herrschaft – ferngehalten, um die Reinheit einer priesterlichen Männerkirche nicht zu gefährden. So werden verheiratete Männer nicht zum Priesteramt zugelassen, um die Heiligkeit des Pflichtzölibats aufrechtzuerhalten. So werden Befreiungstheologen und feministische Theologinnen verurteilt und von Lehrstühlen fern gehalten, um die Reinheit der unveränderlichen dogmatischen Lehre zu bewahren. So werden geschiedene und wiederverheiratete Männer und Frauen nicht zur Eucharistie zugelassen, um die Heiligkeit der katholischen Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe nicht zu schwächen. So werden selbst bei Aids Kondome verboten, um die Reinheit der katholischen Sexualmoral nicht aufzuweichen. Nichts scheint für die Kirchenautoritäten wichtiger, als die klerikal-zölibatäre Männerkirche mit ihrer rigiden und weltfremden Sexualmoral mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.

Der Klerikalismus als Problem

Dass der Klerikalismus ein Problem darstellt und zum Entstehen von Machtmissbrauch und sexueller Gewalt beiträgt, hat Papst Franziskus überraschend deutlich am 20. August 2018 in einem «Brief an das Volk Gottes» eingestanden. Der sexuelle Missbrauch durch Priester sei immer zugleich auch ein Macht- und ein Gewissensmissbrauch. Sexueller Missbrauch werde begünstigt und gedeckt durch die Haltung des Klerikalismus, die der Papst als eine «anomale Verständnisweise von Autorität in der Kirche» kritisiert und aufs Schärfste verurteilt: «Zum Missbrauch Nein zu sagen, heisst zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen.» Der Papst mahnt in seinem Schreiben deshalb nicht nur verstärkte Präventionsbemühungen an, sondern die Notwendigkeit einer «Umkehr des kirchlichen Handelns» insgesamt. Er ruft das ganze kirchliche Volk zum Gebet und zur Busse auf, damit dies «unser Gewissen, unsere Solidarität und unseren Einsatz für eine Kultur des Schutzes und des ‘Nie wieder’ gegenüber jeder Art und Form von Missbrauch weckt».

Die IG Feministische Theologinnen ist empört, dass Papst Franziskus seinen Appell zur Umkehr an das ganze Volk Gottes richtet, wo doch die Schuld und Verantwortung für die massiven sexuellen Übergriffe nicht beim Kirchenvolk, sondern bei den Priestern, den Bischöfen und Ordensoberen liegen. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass Sensibilisierungsarbeit und die Auseinandersetzung mit der Frage nach der persönlichen Verantwortung jedes Gläubigen innerhalb der Kirche nur dann zur vollen Entfaltung kommen kann, wenn auch die Strukturen entsprechend verändert werden. Solange nur eine «Umkehr des kirchlichen Handelns» aller Gläubigen gefordert wird, ohne die Notwendigkeit von umfassenden Reformen der klerikalen Kirchenstrukturen in gleichem Masse zu verlangen, bleibt das päpstliche Nein zum Klerikalismus ein reines Lippenbekenntnis und folgenlos. Denn ohne eine Veränderung der zölibatär-klerikalen und autoritär-patriarchalen Amtsstrukturen werden sich der Klerikalismus und damit die Anfälligkeit für sexuellen Machtmissbrauch wohl auch in Zukunft nicht vermeiden lassen.

Wir fordern deshalb die Schweizer Bischofskonferenz auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen und die klerikalen Strukturen kritisch zu überdenken, sie als Faktoren des Machtmissbrauchs zu verstehen und zu benennen. Wir fordern sie weiter auf, Massnahmen für Strukturreformen zu ergreifen, die über Sexualkurse für Priester und andere Präventionsarbeit hinausgehen.

Basel, 3. September 2018
Der Vorstand der IG Feministische Theologinnen

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