«In der Kathedrale von Santiago de Compostela fliessen viele Tränen»

St. Gallen/Santiago de Compostela (E), 6.8.18 (kath.ch) Wer Hunderte Kilometer nach Santiago de Compostela gepilgert ist, wird bei der Ankunft nicht stehen gelassen. Für deutschsprachige Pilgerinnen und Pilger gibt es eine eigene Seelsorge. Der St. Galler Josef Schönauer hat hier als erster Schweizer während zweier Wochen im Mai dieses Jahres mitgearbeitet. Im Interview erzählt er, was die Ankömmlinge umtreibt. 

Sylvia Stam

Wer in Santiago ankommt, beendet das Unterwegs-Sein. Kommt es bei der Ankunft zu Tränen?

Josef Schönauer: Ja, ich habe viele Menschen weinen sehen. Ich nenne deshalb den Platz vor der Kathedrale den ‹Platz der Tränen und Umarmungen›. Auch in der Kathedrale fliessen viele Tränen, ebenso beim Pilgerbüro. Dort rollen die Tränen meist erst, wenn die Ankömmlinge das Pilgerbüro verlassen.

Draussen umarmen sie ihre Freundinnen und Freunde nochmals. Das kann sehr emotional sein. Es sind Tränen der Freude über die Ankunft, der Trauer über das Ende einer schönen Zeit, Abschiedstränen von lieb gewonnenen Leuten, Tränen über aufbrechende Emotionen.

Sie haben bei der deutschsprachigen Pilgerseelsorge mitgearbeitet. Braucht es eine eigene Seelsorge für Pilger?

Schönauer: Als ich vor 30 Jahren das erste Mal nach Santiago kam, dachte ich, es brauche einen Ort, an dem die ankommenden Pilger aufgefangen werden. Insbesondere jene, die alleine pilgern, stehen dann auf einmal etwas verloren da, wie bestellt und nicht abgeholt. Die Idee der Pilgerseelsorge ist, dass Menschen, die ein begleitendes Angebot suchen, das auch finden.

«Viele können das Erlebte nicht mit den Daheimgebliebenen teilen.»

Eines dieser Angebote besteht in einer Austauschrunde. Wie gut ist sie besucht?

Schönauer: Im Mai kamen nahezu täglich zwischen zwei und zehn Personen. Sie wollten ihre Erfahrungen teilen. Viele sind Mehrfachpilger und stellen fest, dass sie das Erlebte nicht mit den Daheimgebliebenen teilen können, weil die gemeinsame Basis fehlt.

Was erzählen die Ankömmlinge in diesen Runden?

Schönauer: Es gibt Pilger, die einfach nur strahlen vor Glück. Manchen tut es gut, jemandem sagen zu können, wie anstrengend es war oder dies von anderen zu hören. Eine Frau erzählte, wie sie auf dem Platz vor der Kathedrale ankam und sich fragte: ‹Und jetzt?›

«Es gibt oft Parallelen zwischen Pilger- und Lebensweg.»

Im Gespräch stellte sich heraus, dass das auch ihrer Lebenssituation entsprach. Sie hatte die Ausbildung abgeschlossen und stand vor der Frage, was sie jetzt mit ihrem Leben machen solle. Es gibt oft solche Parallelen zwischen Pilger- und Lebensweg.

Wiederholen sich diese Geschichten nicht immer wieder?

Schönauer: Ja, aber ich höre gerne zu. Schwierig wird es für mich lediglich, wenn sie sich darüber beklagen, dass sie nicht die einzigen auf dem Jakobsweg waren. Dahinter steckt wohl das Bedürfnis nach dem Eremitischen, nach Ruhe und Einsamkeit. Das ist sicherlich auch ein Teil des Pilgerns. Aber die Begegnungen sind ein wesentlicher Teil des Jakobswegs. Persönlich finde ich es sehr schön, dass auch andere diesen Weg gehen.

«Begegnungen sind wesentlicher Teil des Jakobswegs.»

Würden Sie Menschen, die die Einsamkeit suchen, also eher andere Wege empfehlen?

Schönauer: Ja, der Schweizer Jakobsweg ist beispielsweise weniger begangen. Auch wenn man von Genf nach Le Puy läuft, trifft man nicht so viele Menschen.

Was erfahren die Ankömmlinge beim spirituellen Rundgang?

Schönauer: Die Leute von der Pilgerseelsorge zeigen die Kathedrale von aussen, erklären die Symbolik der Muschel und die Geschichte des Heiligen Jakobus. An diesen Rundgängen nehmen bis zu 50 Personen täglich teil, und sie hören sehr aufmerksam zu. Manche sagen, so viele Hintergründe zum Jakobsweg hätten sie auf dem ganzen Weg noch nicht gehört.

Pilger suchen Ihrer Ansicht nach Einfachheit, Entschleunigung und Ursprünglichkeit. Das findet man auch auf einer Bergtour durch die Schweiz. Was ist der Unterschied?

Schönauer: Für viele ist der spirituelle Aspekt ebenfalls wichtig. Natürlich kann ich auch im Alpstein über mein Leben nachdenken. Aber auf dem Jakobsweg weiss ich, dass ich Leute treffe, die auch über ihr Leben nachdenken. Für viele Menschen, die auf der Suche sind, sind diese oft tiefen Gespräche hilfreich.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Schönauer: Ein Lebensmittelingenieur erzählte mir, in seinem Beruf lerne man, andere Menschen zu betrügen. Auf dem Jakobsweg ist ihm sehr bewusst geworden, dass er das in seinem Leben nicht mehr möchte. Unterwegs hat er viele schöne Cafés angetroffen. Nun möchte er sich selbständig machen und ein solches Café eröffnen. Diese Sicherheit hat er im Gespräch mit sich selbst und mit anderen gewonnen.

Josef Schönauer (66) wohnt in St. Gallen. Er betreibt auf privater Basis die Website www.pilgern.ch, ist Präsident des Vereins Pilgerherberge St. Gallen. Schönauer war über 20 Jahre Spitalseelsorger im Kantonsspital St.Gallen. Er kam vor 30 Jahren erstmals mit einer Jugendgruppe in Santiago de Compostela an und hat seither viele Gruppen dahin begleitet.

Dies ist der letzte Text einer zweiteiligen Serie zum Jakobsweg. Seine Erfahrungen im Pilgerbüro schildert Josef Schönauer im ersten Beitrag:

«Ich sehe den Pilgern nicht an, ob sie katholisch oder evangelisch sind»

 

 

 

 

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https://www.kath.ch/newsd/in-der-kathedrale-von-santiago-de-compostela-fliessen-viele-traenen/