«Plötzlich klopften 250 Flüchtlinge an unserer Tür»

Zürich/Sulaimaniyya, 14.5.18 (kath.ch) Die Flüchtlingswelle in den Nordirak ist vorbei, so scheint es. Wellen jedoch haben einen langen Nachklang. Davon weiss der Schweizer Pater Jens Petzold zu berichten. Und auch darüber, wie ein Atheist den Weg zum Mönch und dann in das nordirakische Sulaimaniyya findet.

Francesca Trento

Herr, Petzold, Sie waren einmal Atheist – und jetzt sind Sie Mönch. Wie kam das?

Jens Petzold: Als meine Eltern starben, verspürte ich den Drang, zu verreisen. Eine Freundin von mir sagte mir: «Geh!». Und tatsächlich, ich kündigte meinen Job, meine Wohnung und reiste nach Syrien. Dort stand ich auf einmal vor dem Kloster Mar Musa.

«Du kommst sowieso wieder.»

Zuerst verbrachte ich dort nur ein paar Tage und verreiste wieder. Der Gründer des Klosters, Paolo Dall’Oglio, wollte sich nicht von mir verabschieden. Er sagte mir «Du kommst sowieso wieder.»

Hatte er recht?

Petzold: Allerdings. Ich liess mir jedoch mit dem Zurückkommen einige Zeit. Als ich wieder im Kloster ankam, wusste ich wieder nicht, dass ich länger bleiben würde. Ich wollte nur ein Paar Tage bleiben, die Gemeinschaft wiedersehen. Daraus wurden zuerst Wochen, dann Monate.

Das Leben im Kloster reichte also, um Sie zu bekehren?

Petzold: Eine Bekehrung war gar nicht nötig. Ich wollte schon immer einmal in ein Kloster gehen. Während den paar Monaten im Kloster nahm ich an den Gebeten und Meditationen teil, ich führte etliche Gespräche mit dem italienischen Gründer des Klosters über Gott und die Welt. Dann sagte mir der Jesuit, ich solle doch ein Jahr bleiben und zur spirituellen Forschung dableiben. So kam es dann.

Wie sind Sie in den Irak gekommen?

Petzold: Unsere Gemeinschaft war in Syrien aktiv. Von 2009 an wurde die Lage immer schwieriger für unsere Aktivitäten. Die Regierung änderte ihre Politik, wir konnten plötzlich unsere alljährlichen interreligiösen Treffen nicht mehr veranstalten. Die Gemeinschaft hatte jedoch einen Wunsch: weitere Klöster zu gründen. Ich wurde im Jahr 2011 also beauftragt im nordirakischen Sulaimaniyya ein Kloster zu eröffnen.

Dann kamen die Flüchtlinge.

Petzold: Genau. Im Sommer 2014 änderte alles. Der Islamische Staat rückte in den Irak ein, 1,6 Millionen Menschen flohen, davon 130’000 irakische Christen. Auf einmal klopften 250 Flüchtlinge an unsere Klostertür.

Hatten Sie Platz für alle?

Petzold: Nein, aber wir schafften Platz. Mittlerweile haben wir die Erlaubnis erhalten weitere Häuser zu nutzen und Containerhäuser anfertigen lassen. Anderthalb Jahre lang schliefen manche Familien sogar in der Kirche. Das war eine riesige organisatorische Arbeit.

Sie sind aber Mönch – kein Organisator.

Petzold: (lacht) Ich bin viel mehr als ein Mönch. Und ich war nicht alleine in der Gemeinschaft. Wir packten alle mit an, gründeten sofort einen kleinen Rat, der gewisse Aufgaben verteilt. Ob es um die Gründung einer Schule oder den Einkauf und die Verteilung der Nahrung handelte: Alle hatten ihre Aufgaben.

Waren Kinder nicht zu traumatisiert, um in die Schule zu gehen?

Petzold: Eines der besten Heilmittel nach traumatischen Ereignissen oder den Verlust von allem Hab und Gut ist Normalität. Wenn Kinder einen Alltag erleben dürfen, wie zur Schule zu gehen, hilft das der ganzen Familie. Es schafft Routine.

Schule reicht für Normalität für die ganze Familie?

Petzold: Natürlich nicht. Aber es war ein Anfang – und der kam schnell. Nach einem Monat hatten wir schon eine Schule in Zelten auf die Beine gestellt. Mittlerweile haben wir Sprachkurse organisiert und versuchen die Flüchtlinge in das Leben des kurdischen Sulaimannyia zu integrieren. So veranstalten wir auch Treffen mit Muslimen.

«Das ist meine Berufung.»

Die grösste Krise ist jetzt vorbei, was hält Sie noch im Irak?

Petzold: Sowohl in Syrien wie auch im Nordirak staunte und staune ich immer wieder, wie offen die Religionen miteinander umgehen. vor allem von der Mar Musa Gemeinschaft war ich beeindruckt, denn von Katholiken hätte ich keine solche Offenheit erwartet. Ich fühle mich dort sehr wohl.

Einige Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben, konnten tatsächlich in ihre zerstörte Heimat zurückkehren, sich dort dem Wiedaraufbau ihrer Häuser widmen. Andere sind jedoch noch bei uns. Wir sind ja eigentlich für den Dialog mit dem Islam und die kulturelle Arbeit nach Sulaimanyyia gekommen. Unsere Arbeit hilft immer noch Flüchtlingen, Vertriebenen und Fremden sich hier zu integrieren. Die Arbeit für eine Gesellschaft, die sich frei und vertrauensvoll austauscht, ist meine Berufung, das spüre ich.

Was erhoffen Sie sich von der Reise in die Schweiz?

Petzold: Ich kann hier über unser Leben im Irak berichten. Die Menschen dort brauchen Unterstützung, sie haben nichts mehr, wollen ein neues Leben schaffen, sich integrieren, ihnen fehlt die Arbeit. Dafür braucht es nicht nur Geld, das uns Hilfsorganisationen wie «Kirche in Not» zum Glück verschaffen. Es fehlt an Arbeit, an einem internationalen Programm für den Arbeitsmarkt.

«Der Irak ist kein Entwicklungsland.»

Fabriken und Werkstätten sind zerstört und geplündert worden. Korruption ist immer noch weit verbreitet. Wenn der Irak seine Industrie wieder aufbaut, hätte er sogar Chancen, im internationalen Handel einzusteigen. Denn: Der Irak ist kein Entwicklungsland, er hatte einmal Fachkräfte, auch das Knowhow war da. Kriege und Krisen haben jedoch vieles zerstört.

Kann die Schweiz da wirklich etwas tun??

Petzold: Wenn sie nicht will, dass noch mehr Flüchtlinge hierher kommen, muss sie etwas tun. Sie könnte sich für Wissensvermittlung einsetzen und eine ihrer grössten Stärken zum Zug kommen lassen: Vermittlung. Sie könnte bei der Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen jetzt rivalisierenden Parteien helfen und so dem Irak zu zeigen, dass Vielfältigkeit – wie in der Schweiz – durchaus Einheit sein kann. Der Irak braucht gerade jetzt nach dem offenen Kampf Hilfe: Für einen Christen gilt der Satz «Aus den Augen aus dem Sinn» nicht.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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