«Der Messias hat bei den Juden so gut wie keine Relevanz»

Zürich, 14.12.17 (kath.ch) An Weihnachten feiert die Christenheit die Geburt Jesu Christi. Jesus von Nazareth ist der Messias für die Christen, nicht aber für die Juden, aus deren Tradition das Wort stammt. Warten die Juden noch immer auf eine messianische Heilsgestalt, deren Kommen alles zum Guten wendet? kath.ch hat bei der Jüdin und Theologin Annette Böckler* (51) nachgefragt.

Barbara Ludwig

Die Christen haben Jesus von Nazareth als Messias angenommen. Die Juden haben dies nicht getan. Warten sie denn immer noch auf einen anderen, den richtigen Messias?

Annette Böckler: Der Messias spielt heute fast keine Rolle mehr im religiösen Leben der Juden. Innerhalb der jüdischen Gemeinde hat er, abgesehen von ein paar Gebeten, so gut wie keine Relevanz. Nur wenn man uns fragt – so wie Sie jetzt – machen wir uns Gedanken über ihn. Ein Rabbiner in London, ein Freund von mir, sagte einmal: «Wenn die Christen nicht ständig fragen würden, hätten wir das Wort ‘Messias’ wahrscheinlich längst vergessen.»

Gilt das für das gesamte heutige Judentum?

Böckler: Es gibt eine Minderheit, die den Messias als Person noch immer erwartet. Das sind ultraorthodoxe und chassidische Strömungen innerhalb des Judentums. Sie verstehen den Messias als eine Person, als eine mystische Figur. Und sie sehen auch Gott in vielem aktiver als die progressiven Juden. Deshalb sagen sie zum Beispiel auch, es sei ein Fehler gewesen, den Staat Israel zu gründen. Dies wäre eine der Aktionen des Messias, finden sie.

«Wenn die Christen nicht ständig fragen würden, …»

Zur Zeit der Aufklärung haben die meisten Juden den Glauben an eine solche Heilsfigur als etwas Irrationales verworfen. Heute glauben viele Juden, dass die Zukunft eine gute, eine messianische Zeit sein wird. Und sie verbinden mit der Erwartung ein Handlungsziel: Wenn der Frieden kommen soll, muss ich dazu meinen Beitrag leisten.

Und Sie persönlich: Erwarten Sie den Messias?

Böckler: Ich erwarte die messianische Zeit als Ziel meines Handelns, aber keine Messias-Figur. Wenn von Messias die Rede ist, dann denke ich an eine Zeit.

Was verstehen Sie als moderne Jüdin unter dieser messianischen Zeit?

Böckler: Eine Zeit, in der unsere Welt und unsere Gesellschaft so ist, wie sie nach der Tora sein sollte: gerecht, respektvoll gegenüber Menschen, Tieren und Umwelt, gewaltfrei, vielfältig und friedlich. Eine Welt, in der Verschiedenheit als Reichtum betrachtet wird und die verschiedenen Geschöpfe zusammen in Frieden leben.

Der Prophet Jesaja benutzte dafür einmal das Bild, dass ein Lamm neben einem Löwen sitzt und ein Kind an der Höhle einer Schlange spielt. Die messianische Zeit ist dann gekommen, wenn das Realität wird. – Aber eben gerade nicht so, wie es ein jüdischer Witz sagt: Das funktioniere jetzt schon, man müsse nur das Lamm regelmässig ersetzen.

Was tun Sie dafür, damit diese Zeit kommt?

Böckler: Ich arbeite beim Zürcher Institut für interreligiösen Dialog, einer Institution, die den Dialog fördert, damit Menschen ihre Verschiedenheit verstehen. Dann versuche ich, mich für Frieden und die Lösung von Konflikten in meinem Umfeld einzusetzen. Die Welt kann ich nicht verändern. Aber ich kann dazu beitragen, dass wir uns wenigstens in meinem Umfeld durch mein Verhalten der erwarteten Friedenszeit nähern.

Wie sah es zu Lebzeiten Jesu mit der Erwartung des Messias aus?

Böckler: Damals war die Erwartung unter den Juden sehr stark. Die Römer herrschten in Israel. Es war eine sehr apokalyptische Zeit. Verschiedene Gruppierungen hatten ihre Kandidaten.

«Die Juden kamen zum Schluss, dass alles Reden vom Messias nur zu Unheil führe.»

Und sie waren mehr oder weniger aktiv. Die Zeloten zum Beispiel dachten: «Wir helfen der Ankunft des Messias nach, indem wir selber zu den Schwertern greifen.» Andere wie die Essener zogen in die Wüste. Sie waren überzeugt: «Wir müssen sehr heilig leben, damit er kommt.» Die Idee, dass die Römer nicht das letzte Wort haben, war sehr stark in den Köpfen dieser Gruppierungen.

Was haben diese denn vom Messias erwartet?

Böckler: Die Rettung von der Fremdherrschaft.

Er sollte demnach ein politischer Führer sein?

Böckler: Ja, auf jeden Fall. Man erwartete von ihm, dass er die Herrschaft der Juden über ihr Land wiederherstellt.

Bei Jesus hat man nicht den Eindruck, dass er ein weltlicher Führer sein wollte. Haben ihn die Juden deshalb als Messias abgelehnt?

Böckler: Ja. Keiner schien ihn in dieser Rolle zu sehen. Aber es gab noch einen anderen Grund. Der Bar-Kochba-Aufstand (132 bis 135 nach Christus) war ein ganz einschneidendes Erlebnis für die jüdische Theologie. Nachdem auch dieser Aufstand gegen die Römer gescheitert war, herrschte eine traumatische Situation in Israel. Die Beschneidung wurde verboten, ebenso das Lernen der Tora. Kurz: Die jüdische Religion wurde verboten. In der Folge entstand die erste rabbinische Schrift, die Michna. Sie hat alle politischen, apokalyptischen und messianischen Vorstellungen über Bord geworfen – um des Friedens willen.

«Im Mittelalter wurden Juden vor christliche Könige zitiert.»

Die Juden kamen zum Schluss, dass alles Reden vom Messias nur zu Unheil führe und für die Praxis der Religion überhaupt nicht wichtig ist. Man dachte jetzt, der politische Kampf um die Macht führe am Ende nur dazu, dass man das Judentum nicht mehr praktizieren dürfe. Anstelle von Königen sollten Rabbiner – also Gelehrte – über die Juden herrschen. Nicht politische Macht ist anzustreben, sondern Wissen und lebenslanges Lernen.

Die Messias-Erwartung wurde also vor knapp 2000 Jahren durch die Römer zerstört. Dennoch findet sie sich bei den von Ihnen erwähnten Minderheiten noch heute. Hat hier das Christentum auf das Judentum zurückgewirkt?

Böckler: Ja. Man findet die Rede vom Messias erstmals wieder im Talmud im sechsten Jahrhundert, und dort hat sie polemische Klänge. Im Mittelalter wurden Juden vor christliche Könige und deren Höfe zitiert, um Fragen nach dem Messias zu beantworten – also musste man sich damit beschäftigen. Damals ging es der Kirche darum zu beweisen, dass die Wahrheit bei ihr lag. Unsere andere Position hat da ziemlich irritiert

*Annette Böckler ist seit Anfang Mai Fachleiterin Judentum am Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog (ZIID). Sie ist Jüdin und stammt aus Deutschland. Dort und in Bern hat sie evangelische Theologie mit Vertiefung in Judaistik studiert. Sie hat sich als Wissenschaftlerin und als Publizistin mit Fragen des interreligiösen Dialogs befasst.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/der-messias-hat-bei-den-juden-so-gut-wie-keine-relevanz/