Jeder sechste Sterbende erlebt seinen Tod nicht

Zürich, 21.11.17 (kath.ch) Vor Jahren wollte der Bundesrat wissen, wie in der Schweiz gestorben wird. Er setzte das Nationale Forschungsprogramm «Lebensende» (NFP 67) ein. Dieses hat am Dienstag seine Resultate und Vorschläge präsentiert. «Palliative Care sollte in der Schweiz stärker etabliert werden», betont Markus Zimmermann von der Universität Freiburg in einer Medienmitteilung. Der Theologe ist Präsident der Leitungsgruppe des NFP 67.

Die NFP67-Studie zeigt erstaunliche Resultate auf. So heisst es etwa, dass ältere Sterbende während ihrer letzten Lebensphase deutlich geringere Behandlungskosten verursachten als jüngere Sterbende. Einer der Gründe dafür liege darin, dass ältere Menschen seltener im Spital sterben würden. Die Zahlungsbereitschaft für die Behandlung sterbender Kinder sei besonders hoch.

Die Behandlung von Krebserkrankungen bei Patienten am Lebensende sei besonders teuer. Die Bereitschaft der Bevölkerung, für die hohen Kosten am Lebensende aufzukommen, sei allerdings hoch – in der Westschweiz noch höher als in der Deutschschweiz.

Lebensbeendende Massnahmen

Bei 70 Prozent der «nicht-plötzlichen Sterbefälle» aus dem Jahr 2013 sei entweder auf eine weitere Behandlung verzichtet, eine laufende Therapie abgebrochen oder Massnahmen zur Schmerz- beziehungsweise Symptomlinderung mit möglicherweise lebensverkürzender Wirkung ergriffen worden. Bei lediglich drei Prozent dieser Sterbefälle seien Entscheidungen zur Lebensbeendigung getroffen worden. Darunter fallen «Suizidhilfe, aktive Sterbehilfe auf Verlangen oder solche ohne ausdrückliches Verlangen des Patienten».

Ein heisses Eisen ist die Sterbehilfe. Die Schweizer «Selbstbestimmungsorganisationen» halten in einer Mitteilung von Dienstag fest, das Forschungsprogramm NFP 67 habe bei der Wertung der Suizidhilfe erkannt, dass es sich «um ein Randphänomen handelt und auch in diesem Bereich die Patientenselbstbestimmung zu schützen und zu stützen ist». Naiv mute aber die Forderung an, es brauche am Lebensende mehr Gespräche und ein Vertrauensverhältnis zu den Ärzten. Die sei angesichts des «knappen Zeitbudgets der Mediziner praxisfremd».

Belastung Suizidhilfe

Der Wunsch nach Suizidhilfe werde häufig an die Hausärzte herangetragen, heisst es in der NPF-Studie. Zwischen 2011 und 2013 seien knapp 40 Prozent der befragten Ärzte und Ärztinnen von ein bis zwei Patienten, ein Drittel von drei oder mehr Patienten darauf angesprochen worden.

Über die Hälfte der Befragten hätten den Suizidwunsch als erhebliche emotionale Belastung erlebt und die Patienten an eine Sterbehilfe-Organisation verwiesen. Lediglich ein Fünftel der Befragten wäre bereit, einen Patienten beim Suizid zu begleiten.

Medikamentöser Tiefschlaf

Auffällig viele Patientinnen und Patienten würden während ihrer letzten Lebensphase sediert und erlebten daher das Sterben nicht bewusst. 2013 sei jeder sechste Sterbende in der Schweiz davon betroffen gewesen.

Unter einer tiefen Sedierung werde ein medikamentös herbeigeführter Tiefschlaf bis zum Tod verstanden, der dann eingesetzt werde, wenn sich gewisse Symptome während des Sterbeprozesses nicht mehr anders kontrollieren liessen.

Alternative Religiosität

Im Sterben stellten sich häufig existenzielle und Sinnfragen. Betreuende Personen sollten dies angemessen berücksichtigen, denn das spirituelle Wohlbefinden und das Verhindern einer existenziellen Not könne die Lebensqualität im Sterben entscheidend verbessern, fordern die Autoren der Studie.

Heute seien zu traditionellen Idealen, die beispielsweise von den christlichen Kirchen vertreten würden, unterschiedliche Formen so genannter «alternativer Religiosität» hinzugekommen. Diese Veränderungen sollten in der Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen durch die Institutionen und die Gesundheitsfachleute angemessen berücksichtigt werden.

Überforderte Hausärzte

Hausärztinnen und Hausärzte spielten bei Sterbeprozessen eine zentrale Rolle. Oft würden sie die betroffene Person seit Jahren kennen und medizinisch betreuen. Sie wüssten über ihr familiäres und soziales Umfeld Bescheid. Die Hausärzte aller drei Landesteile würden der Berücksichtigung von Angehörigen bei Lebensende-Entscheidungen eine hohe Bedeutung beimessen, wie eine Befragung von 579 Hausärzten in allen Landesteilen ergeben habe.

Wenn die Hausärztinnen und Hausärzten bei der Versorgung Sterbender mit ethischen, rechtlichen, psychischen oder spirituellen Herausforderungen konfrontiert würden – das gelte besonders im Kontext von Suizidhilfe – , stiessen sie nach eigener Aussage an Grenzen. Richtlinien seien ihnen kaum bekannt oder würden nicht eingesetzt. Auch die interprofessionelle Zusammenarbeit funktioniere laut den Befragten nicht befriedigend. Sie wünschten sich eine bessere Ausbildung in Palliative Care und eine höhere gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit.

Palliative Care

Die Ergebnisse der Projekte des NFP 67 unterstreichen die Wichtigkeit von Palliative Care. Palliative Care sei in der Schweiz stärker zu etablieren, fordert die Studie. Die Bevölkerung sollte dafür sensibilisiert, Pflegefachkräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie weitere Fachpersonen besser aus- und weitergebildet werden. Der Zugang zur Palliative Care für Menschen, die zuhause sterben, sei über die Schaffung mobiler Teams zu verbessern. (gs)

Gestorben wird heute anders – aber wie?

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