Missbrauchs-Opfer müssen das Heitere mit dem Dunkeln verbinden

Bern, 14.11.17 (kath.ch) Wenn die Kirche beim Thema Missbrauch auf die Humanwissenschaften zugeht, ist sie auf dem guten Weg, sagt die Zürcher Psychiaterin Brigitte Ambühl. Sie ist auf Trauma und Extremtrauma spezialisiert. Sie führt eine eigene Praxis und arbeitet zudem in einer Institution. Die Humanwissenschaften befassen sich mit dem Menschen als ein Forschungsobjekt.

Georges Scherrer

Bischof Felix Gmür und der ehemalige Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, haben an der internationalen Konferenz «Abuse & Neglect» über den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute in Bern referiert. Sind Sie zufrieden mit den Aussagen, die Sie gehört haben?

Brigitte Ambühl: Teils, teils. Ich bin zufrieden, dass dieses Thema an diesem Kongress aufgegriffen wurde und die beiden Vertreter der Kirche so offen auftraten. Ich habe aber das Gefühl, dass sie ihre Institution schützen wollten. Es werden zwar Regeln aufgestellt. Die Kirche bemüht sich, mit den Tätern klar zu werden. Aber das, was im Zivilrecht ganz normal ist, vermisse ich: Die Gegenüberstellung. Es geht um die Opfereinvernahme. Der Täter muss mit einem Anwalt in einem Nebenraum sitzen. Auf diese Weise findet eine Konfrontation statt. Eine solche Aufarbeitung führt zu ganz anderen Resultaten.

Im Vordergrund hat man zwar Vorschriften, im Hintergrund entwickelt sich aber etwas Anderes.

Für die Kirche steht demnach viel Arbeit an…

Ambühl: Für beide, für Opfer und Täter. Jetzt ist das Opfer in den Mittelpunkt gerückt. Es entscheidet, ob es zu einer Gegenüberstellung kommen soll. Das ist aber im Zusammenhang mit der eigenen Biographie schwierig. Die Opfer wurden lange Zeit nicht anerkannt. Es ist darum schwierig, nachdem die Opfer älter werden, ihren Wunsch wirklich klar wahrzunehmen.

Die andere Frage ist: Was geschieht mit den Tätern, wenn sie zurückkehren? Wie wird die Gemeinschaft vorbereitet? Wie wird sie aufgeklärt? Was sind die Möglichkeiten? Diese Dynamik muss auch transparent gemacht werden. Sonst befürchte, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Im Vordergrund hat man zwar Vorschriften, im Hintergrund entwickelt sich aber etwas Anderes.

Die Arbeit mit den Tätern ist wichtig, um näher an die ganze Dynamik heran zu kommen.

In Ihrem Beruf betreuen Sie Opfer. Haben Sie auch mit Tätern zu tun?

Ambühl: Mit beiden. Ich arbeite auch im Migrationsbereich und habe dort mit Opfern und Tätern zu tun. Ebenfalls wenn es um Kindsmissbrauch und Kinderschutz geht. Es ist nicht damit getan, wenn ich nur das Opfer sehe. Denn der Täter spielt im Geist des Opfers eine ganz zentrale Rolle. Es ist das Problem, dass so etwas im Kopf bleibt. Die Arbeit mit den Tätern ist wichtig, um näher an die ganze Dynamik heran zu kommen; zu verstehen, was da geschieht, welcher Machtanspruch oder welche Pathologie dahinter steckt.

Stossen Sie bei den Gesprächen mit Opfern und Tätern auf ähnliche Haltungen oder stehen sich in der Sache zwei klare Gegenwelten gegenüber?

Ambühl: Ich muss ganz genau reflektieren, wann Ekel und Abscheu auftauchen. Wann entsteht eine Vorverurteilung? Wir treffen da nicht die gleiche Offenheit. Wir sind es mehr gewohnt, den Opfern zu helfen, sie zu unterstützen und zur Heilung beizutragen. Wenn dieser Punkt reflektiert und überwunden ist, wird eine Dynamik sichtbar, die es ermöglicht, auf das Opfer einzugehen und etwas zu bewirken. Man kann auch dem Täter Unterstützung geben. Man kann auch einen Täter zu einer Einsicht verhelfen oder zumindest mit ihm präventiv arbeiten, sodass es nicht zu Nachfolgeaktionen kommt.

Ich bin bezüglich des Verzeihens und der Versöhnung sehr kritisch.

Vor einigen Monaten veröffentliche der Freiburger Daniel Pittet ein Buch über seine Leidensgeschichte. Pittet schreibt, er habe seinem Peiniger verziehen. Ist das ein Weg, dem Opfer ganz allgemein folgen können, oder sieht es bei vielen in ihrem Inneren zu Dunkel aus, sodass sie sich nicht zu einem solchen Schritt entscheiden können?

Ambühl: Das ist eine schwierige Frage. Es handelt sich um einen individuellen Weg. Wenn das Opfer den Täter abwertet bis zur Vernichtung, dann ist der Täter auf einmal nicht mehr so relevant. Das Opfer macht dann etwas, was der Täter gemacht hat. Das Opfer erklärt den Täter für unwert. Der Täter wird klein, das Opfer selber stärker. Der Täter denkt ähnlich. Das Opfer ist einfach ein Opfer, ein Objekt. Dieses kann er behandeln, wie er will.

Ich bin bezüglich des Verzeihens und der Versöhnung sehr kritisch. Ich denke, es gibt eine Grenze. In der Fachliteratur werden Fälle beschrieben, in welchen Soldaten Kinder erschossen haben. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Mutter als Schwersttraumatisierte dem Täter verzeiht und in eine Versöhnung einwilligt. Es gibt eine Grenze der christlichen Ideale. Das muss berücksichtigt werden.

Am Kongress führte Bischof Felix Gmür das lange Schweigen der Kirche über den sexuellen Missbrauch unter anderem darauf zurück, dass sie «bildungsfern» gehandelt habe. Soll die Kirche verstärkt die Zusammenarbeit mit den Humanwissenschaften suchen?

In jedem Überlebenden befindet sich auch ein sehr gesunder Teil.

Ambühl: Diese Initiative würde zuerst einmal wichtige Impulse liefern. Die Kirche könnte die verschiedenen Mechanismen differenzierter wahrnehmen. Auch die Dynamik, die zwischen Opfern und Tätern besteht. Ich glaube, nur so ist eine Prävention möglich.

Ist für ein schwersttraumatisiertes Opfer alles aus?

Ambühl: Das ist sicher nicht so. In jedem Überlebenden befindet sich auch ein sehr gesunder Teil, ein humorvoller Teil. Ein Teil, in welchem sie der Welt zugewandt sind und genussfähig bleiben. In einer Therapie wird die dunkle Seite Thema. Das wesentliche bei einer Therapie ist es, diese beiden Teile zu verknüpfen: das Heitere mit dem Dunkeln. Das Dunkle muss zu einem Teil der Biographie werden, aber auch das Genussvolle und Schöne muss wieder Zugang haben.

 

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https://www.kath.ch/newsd/eine-therapie-verbindet-das-heitere-mit-dem-dunkel/