Ungeliebte Niemande

«Verdingkind» kommt als Wort nur im Schweizerdeutschen vor. Das Verdingkinderwesen, das unzählige Kinder zu einem beliebig ausbeutbaren Gegenstand herabgewürdigt hat, ist ein bis heute wenig erforschtes, dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte.

«Dort waren bereits viele Leute versammelt. Leute, welche Kinder brachten, Leute, die Kinder an Kost nehmen.» Diese Szene schildert nicht etwa einen Sklavenmarkt, sondern eine so genannte Bettlergemeinde in einem Berner Bauerndorf. In seinem «Bauernspiegel» beschreibt Jeremias Gotthelf, wie das Kind einer verarmten Familie auf diesem Menschenmarkt als billige Arbeitskraft an eine Bauernfamilie verdingt wird. Es wird fortan nicht mehr mit seinem Namen gerufen, sondern ist nur noch «dr Bueb», ein Niemand, den man wohl oder übel durchfüttern muss, der jedoch keinerlei Anspruch auf Verständnis oder Liebe hat. «Ich fühlte mich allein auf der Welt, wurde ernst, bitter, schien unfreundlich, mürrisch, aber niemand sah, wie oft, wenn ich allein war, eine Wehmut über mich kam, die in einem Tränenstrom sich auflöste, der fast nicht versiegen wollte.»

Dass Gotthelf nicht bloss mit dichterischen Effekten arbeitete, sondern eine düstere Wirklichkeit nachzeichnete, und dass auch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bedenkenlos Kinderseelen zertrampelt wurden, belegt die Geschichte des heute 80-jährigen Turi Honegger. In den dreissiger Jahren kam er als Verdingbub zu einer Bauernfamilie nach Schlieren und wurde dort körperlich und seelisch misshandelt. Als er nach einem verheerenden Hagelwetter den Meister über die Verluste im Obstgarten trösten wollte, reagierte der Bauer auf das Mitgefühl des damals 14-Jährigen mit einer heftigen Tracht Prügel. Der blutig geschlagene Turi musste seine Verletzungen während Tagen im Schweinestall ausheilen.

«Zweimal war ich nahe daran, mich umzubringen», erzählt Honegger, der Jahre später als Blick-Kolumnist und Publizist einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen sollte. Am Beginn seiner schweren Kindheitsgeschichte steht eine überforderte, hilflose Frau: «Meine Mutter hat mich ´furt grüehrt´. Das Wort ´ausgesetzt´ finde ich zu human für den Vorgang, bei dem man ein neugeborenes Kind in eine Kiste legt und dann irgendwo unter eine Bank schiebt.»

Armut als Makel

Im Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaft hatte der Arme eine bestimmte Funktion: Er sollte besser situierte Menschen zu Werken der Barmherzigkeit aufrufen und als Gegenleistung für empfangene Mildtätigkeit für das Seelenheil der Wohltäter beten. Im Spätmittelalter wurde immer stärker zwischen würdigen, weil arbeitsamen oder aber kranken und invaliden Armen, sowie arbeitsscheuen und somit «unwürdigen» Armen unterschieden.
In der Neuzeit kam es zu einem Begriffswandel. Armsein war nicht länger ein Geschick, sondern vielmehr Kennzeichen einer bestimmten Bevölkerungsschicht. In der Schweiz richteten die Gemeinden ein Fürsorgesystem ein, das den jeweils heimatberechtigten «Armengenössigen» Beistand bot und Ortsfremde ausschloss. Der Berner Historiker Oliver Schihin kommt im Rahmen eines Beitrages zur Geschichte der Gemeinde Worb auf eine besondere, offenbar in ländlichen Gemeinden gängige Form der Armenversorgung zu sprechen. Nach einem durch Los bestimmten Rotationssystem wurden die Bedürftigen – «Umgänger» genannt – von Bauernhof zu Bauernhof verschoben und dort während einiger Zeit beherbergt. Zur Gruppe der Umgänger gehörten zuweilen auch Kinder und Jugendliche, die im Verding nicht mehr tragbar oder immer wieder entlaufen waren.

Auch der Verding war eine gängige Form der Armenfürsorge. Leute, die ein verwaistes oder aus einer verarmten Familie stammendes Kind aufnahmen, hatten für seine Nahrung, Kleidung und religiöse Erziehung zu sorgen und wurden dafür von der Gemeinde entschädigt. «Die in den Quellen vermerkten Kostgelder geben immer nur den Gesamtbetrag an. Was die Kostgeber für die ihnen anvertrauten Bedürftigen tatsächlich ausgaben und welche Nahrung, Kleidung oder Ausbildung diese erhielten, geht aus den Quellen nicht hervor», schreibt Oliver Schihin. Es ist anzunehmen, dass in vielen Fällen ein Teil des Kostgeldes dem Verdingkind vorenthalten und als unkontrolliertes Nebeneinkommen abgezweigt wurde.

Das Kind als Arbeitskraft

«Das Verdingkind stellte eine Ware dar, nützlich als Arbeitskraft, aber sonst recht- und würdelos», sagt der einstige Verdingbub Turi Honegger. Während der Zeit, die er in einem Heim verbracht hatte, und während der drei Jahre, die er nach seiner Verdingzeit in einer Arbeitserziehungsanstalt durchstehen musste – «das kam die Gemeinde billiger, als wenn ich irgendwo in die Lehre gegangen wäre» –, war schwere körperliche Arbeit immer ein Leitthema. «Unerbittlich wurde man zum Arbeitstier erzogen, zentrales Anliegen war die Arbeit, die ein anständiges Leben ermöglichen sollte.» Vom Bauern wurde Turi bei der Feldarbeit mit Heugabelstichen in den Hintern angetrieben, später sollten andere Züchtigungsformen den Arbeitseifer fördern. In der Arbeitserziehungsanstalt wurde unwirsch vermerkt, der Zögling Honegger lese Bücher, statt zu arbeiten: Niemand lobte den Bildungshunger des jungen Mannes, der sich durch die Anstaltsbibliothek hindurchlas. «Anstrengend war weniger die Arbeit als immer wieder Auswege aus der Diskriminierung zu finden», erinnert sich Honegger.

Die Ausbeutung der Verdingkinder als Hilfskräfte und Feldarbeiter lässt sich gewiss in keiner Weise rechtfertigen. Jedoch muss in Betracht gezogen werden, dass noch Jahrzehnte nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa die Kinder aus mittleren und unteren Gesellschaftsschichten als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Historische Belege zeigen etwa auf, wie ständig unterernährte Kinder von Baselbieter Familien regelmässig bis tief in die Nacht hinein bei der Bandweberei behilflich sein mussten. In manchen nicht industrialisierten Ländern ist Kinderarbeit noch heute ein ernstes Problem.

Die Wunde der Ungeliebten

Wenn auch die Rolle der Verdingkinder als Arbeitskräfte im zeitbedingten Kontext gesehen werden muss: Keine Studie wird je das Ausmass der seelischen Verwundungen und des sexuellen Missbrauchs erfassen können.
«Die Wunde der Ungeliebten äussert sich im schmerzlichen Gefühl, nicht geliebt, sondern ausgestossen zu werden», schrieb vor Jahren der Zürcher Psychotherapeut Peter Schellenbaum. Diesem Gefühl des Ausgestossenseins gibt Gotthelf im «Bauernspiegel» ergreifend Ausdruck. Der Verdingbub möchte wie die andern Kinder auch vom «Ätti» geliebt werden: «Das isch nyt dy Ätti, du hesch kei Ätti» – der Bauer lachte das Kind aus und sah nicht, «wie mein ganzes Wesen sich erschütterte.»

In grosser Dankbarkeit erzählt Turi Honegger von der Begegnung mit seiner späteren Frau. Die vorbehaltlose Liebe dieser Frau baute sein Selbstwertgefühl auf – das noch oft auf die Probe gestellt werden sollte. Unmittelbar vor der
Eheschliessung fragte der Beamte auf der Gemeindekanzlei die zukünftige Frau Honegger, ob sie tatsächlich gewillt sei, «so einen» zu heiraten. Vor etwa 30 Jahren sollte der unbescholtene Einwohner Honegger – «ich war übrigens ein guter Steuerzahler» – mitsamt seiner Familie aus der Gemeinde Bülach fortgeekelt werden, weil bekannt geworden war, dass das einstige Verdingkind später Zögling einer Arbeitserziehungsanstalt gewesen war.

Turi Honegger liess sich nicht vertreiben, sondern antwortete mit seinem Lebensbericht «Die Fertigmacher». Das Buch erlebte zwölf Auflagen und wird im Februar 2004 im Verlag Huber neu aufgelegt.

Und heute?

Noch fehlt eine umfassende historische Studie zur Verdingkinderproblematik in der Schweiz, ein politischer Vorstoss von alt Nationalrat Ruedi Baumann vom Juni 2003 wartet auf Realisation.

Heute spricht man nicht mehr vom Verding-, sondern vom Pflegekinderwesen. Hat sich alles zum Besseren gewandelt? Die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr hat laut einem Bericht der «Sonntags-Zeitung» vom 15. Juni 2003 ihre Bedenken: Vielerorts würden Kinder nach dem Zufallsprinzip in Familien oder Heime vergeben, Fehlplatzierungen seien die Folge, «längst nicht in allen Familien werden die Qualitätsstandards eingehalten.» Die Zahl der Pflegekinder ist statistisch nicht erfasst und wird auf etwa 15 000 geschätzt.
Beat Niederberger, katholischer Gemeindeleiter im aargauischen Schöftland, Vater eines Sohnes und Pflegevater von drei aus der gleichen Familie stammenden Kindern, stimmt der pessimistischen Einschätzung voll und ganz zu: «Das Pflegekinderwesen ist in der Schweiz auf dem politischen Feld in einem hundsmiserablen Zustand. Der Bund hat die Kantone angewiesen, einen Katalog von Minimalanforderungen umzusetzen. Der Kanton Aargau beispielsweise hat überhaupt nicht reagiert und ist der Meinung, die Bundesverordnung reiche aus.» Es fehlt an professionellen Anlaufstellen, die sich seriös mit der Platzierung von Pflegekindern befassen. «Oft geschieht die Platzierung schleichend. Nach dem aus irgendwelchen Gründen erfolgten Zusammenbruch der Herkunftsfamilie kommt das Kind vielfach zu Verwandten, Grosseltern oder Nachbarn. Das Pflegeverhältnis wird erst im Nachhinein irgendwie geregelt.» Meist sind die Gemeindebehörden zuständig – und die sind erleichtert, wenn eine Unterbringung möglichst rasch und kostengünstig vonstatten geht. Die Chance einer sorgfältigen Abklärung besteht allenfalls dann, wenn ein Mitglied der Fürsorgebehörde berufliche Kenntnisse mitbringt und sich entsprechend einsetzt.

Auch im aktuellen Pflegekinderwesen besteht die Gefahr der Ausbeutung. Beat Niederberger verweist auf die Dunkelziffer von Fällen, in denen die Pflegefamilie das Pflegekind als Kind zweiten Ranges behandelt und es ausbeutet – bis hin zum sexuellen Übergriff. In gewissem Sinn ausgebeutet fühlen sich manchmal auch Pflegeeltern. Ohne jegliche Unterstützung oder professionelle Begleitung werden sie mit schwierigen Konfliktsituationen konfrontiert, die etwa dann entstehen, wenn auf Grund der gesetzlichen Bestimmung die elterliche Sorge von den leiblichen Eltern wahrgenommen wird, die gar nicht präsent und unter Umständen nicht voll entscheidungsfähig sind.

Beat Niederberger hat berufsbegleitend eine von der Schweizerischen Fachstelle für Pflegekinderwesen organisierte Ausbildung durchlaufen, das Paar hat sich für eine Supervision entschlossen. Auf eigene Initiative und auf eigene Kosten.

Meta Zweifel

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