«Der Islam braucht eine Theologie des Einbezugs anderer Religionen»

Freiburg, 3.10.17 (kath.ch) Der Islam soll eine Theologie entwickeln, welche die anderen Religionen mit einbezieht, sagt der Theologe Mariano Delgado im Anschluss an  einen «Interdisziplinären Workshop», zu welchem Fachleute aus halb Europa nach Freiburg gereist sind. Für kath.ch fasst der Freiburger Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte und Mitorganisator des Treffens die wichtigsten Resultate der Begegnung zusammen.

Georges Scherrer

Was bedeutet es, dass das Institut für das Studium der Religionen und den Interreligiösen Dialog (IRD) und das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) gemeinsam mit der Fokolar Bewegung zu diesem Interdisziplinären Workshop gerufen haben?

Mariano Delgado: Das Institut und das Zentrum sind zwei akademische Institutionen, die den Auftrag haben, den interreligiösen Dialog zu pflegen – das IRD im Allgemeinen, das SZIG als islamisch-christlicher Dialog. Die Zusammenarbeit mit einer nicht-akademischen, im Schosse des konziliaren Aufbruchs der katholischen Kirche entstandenen Bewegung, die im interreligiösen Dialog sehr engagiert ist, ermöglicht uns, die akademische Aufgabe mit der existentiellen und gesellschaftlichen zu verbinden.

Die Fokolar-Bewegung hat in der katholischen Kirche eine Pionier-Rolle im interreligiösen Dialog.

Die Fokolar-Bewegung ist sowohl auf den Ebenen des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns für eine bessere Welt wie auf den Ebenen des theologischen und spirituellen Austausches tätig. Man darf nicht vergessen, dass die Fokolar-Bewegung von Anfang an die Friedensgebetstreffen von Assisi, also seit 1986, mitvorbereitet und unterstützt hat. In der katholischen Kirche kommt der Fokolar-Bewegung eine Pionier-Rolle im interreligiösen Dialog zu.

Der Workshop fokussierte nicht auf den «Dialog des Lebens», bei welchem Menschen nach Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens suchen, oder auf den «Dialog des Handelns», bei welchem sich die Menschen gemeinsam etwa um Gerechtigkeit und Frieden bemühen, sondern auf den «Dialog des theologischen Austausches». Welche Resultate sind diesbezüglich bei den Gesprächen herausgekommen?

Delgado: Während der Dialog auf den Ebenen des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns immer selbstverständlicher wird, ist der Dialog auf der anderen Ebene immer noch schwierig. Es sind immer noch viele Vorurteile vorhanden. Nicht alle religiösen Traditionen pflegen zudem eine angemessene Hermeneutik (Die Kunst der Auslegung und Deutung von Texten, die Red.) anderer Religionen angesichts religiöser Vielfalt und Konkurrenz.

Der Dialog des theologischen Austauschs ist immer noch schwierig.

Es fehlt vielfach in der Theologie der Religionen eine ‘alteritätsgerechte’ Hermeneutik, die das Fremde miteinbezieht, wie sie etwa Bartolomé de Las Casas im 16. Jahrhundert zu entwickeln versuchte, als er meinte, wir sollten die Ereignisse auch so betrachten, «als wenn wir Indianer wären».

Welche Herausforderung für den interreligiösen Dialog hat sich in den Gesprächen herauskristallisiert?

Delgado: In der Schlussrunde hat sich ein gewisser Konsens der Minimalbedingungen des religions-theologischen Dialogs abgezeichnet, den ich folgendermassen zusammen fassen möchte: Ein solcher Dialog setzt zunächst die Rahmenbedingungen dessen voraus, was wir heute ‘Religionsfreiheit’ nennen. Gemeint ist damit eine herrschaftsfreie Situation, die die Grundrechte aller garantiert.

Dann ist es nötig, dass wir, bevor wir in den religionstheologischen Dialog eintreten, die eigene religiöse Tradition selbstkritisch durchleuchten und uns mit den darin vorhandenen ‘Pathologien’ oder Fehlentwicklungen auseinandersetzen. Die selbstkritische Durchleuchtung von Pathologien in der eigenen Religionsgeschichte kann für das Christentum anhand von drei Beispielen aufgezeigt werden: Heute ist es ein Konsens in der christlichen Exegese, dass man sich auf die Bibel nicht zur Rechtfertigung von Aggression und Gewalt berufen kann. Es war aber nicht immer so; in der Kirchengeschichte finden wir auch die Konstruktion eines einseitigen ‘Missionsrechts’ als Einbahnstrasse zur christlichen Eroberung und Evangelisierung der Welt ohne Reziprozität gegenüber anderen Religionen.

Wir müssen erst die eigene religiöse Tradition selbstkritisch durchleuchten.

Wie wurde dieses «Missionsrecht» überwunden?

Delgado: Um dieses ‘Missionsrecht’ zu überwinden, bedurfte es der Hilfe weltlichen Rechts und der Philosophie der Aufklärung. Die Theologie war nicht imstande, aus sich heraus einen Weg zur Religionsfreiheit zu finden. Das Christentum hat den Weg zur Überwindung der gewaltsamen Bekämpfung von Häresie und Glaubensabfall gefunden.

Wenn in der Geschichte einer Religion solche und andere Pathologien des homo religiosus überwunden wurden – und sei dies manchmal auch gegen den Widerstand der institutionellen Vertreter dieser Religion, so stellt diese Geschichte so etwas wie einen Lernraum zur Überwindung ähnlicher Pathologien in anderen Religionen dar.

Die Geschichte stellt einen Lernraum zur Überwindung von Pathologien in Religionen dar.

Andere Religionen sollen aus der Geschichte des Christentums lernen. Gibt es weitere Ansatzpunkte für einen religions-theologischen Dialog?

Delgado: Es ist wichtig, dass die am religionstheologischen Dialog beteiligten Theologen aus der eigenen Tradition heraus einen aufgeklärten Inklusivismus entwickeln, der die anderen nicht ausschliesst, sondern unter Respektierung ihres jeweiligen Selbstverständnisses einzuschliessen versucht. Das heisst: Man fragt, was Gott uns mit den anderen Religionen sagen möchte und wie wir angesichts der Religionsvielfalt zu einem religions- beziehungsweise alteritätsgerechten Verständnis des Anderen und unser selbst im Angesichte des Anderen gelangen können.

Und schliesslich darf nicht vergessen werden, dass der religionstheologische Dialog etwas für gläubige Menschen ist, die der jeweiligen Religion existentiell nahe stehen und bereit sind, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach ihrer Hoffnung fragt. Der religionstheologische Dialog zielt nicht auf Bekehrung ab, sondern auf Austausch der jeweiligen Hoffnung und gemeinsame Suche nach der Wahrheit.

Der religionstheologische Dialog zielt nicht auf Bekehrung ab.

Welche Bedeutung hatte für den Workshop die Erklärung «Nostra aetate» (»Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen»), welche durch das Zweite Vatikanische Konzil erarbeitet wurde?

Delgado: «Nostra aetate» ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Erstaunlicherweise haben einige der muslimischen Gesprächspartner diese immer wieder sehr zustimmend zitiert, weil dort der Islam beziehungsweise die Muslime eine gewisse Anerkennung erfahren. Aber der wichtigste religionstheologische Text des Konzils im Geiste dessen, was ich den ‘aufgeklärten Inklusivismus’ nenne, ist «Gaudium et Spes», ein Dokument also, das auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet wurde.

Darin heisst es unter Punkt 22, dass «der Sohn Gottes … sich in seiner Menschwerdung gewissermassen mit jedem Menschen vereinigt» hat. Und dass die «Berufung des Menschen» zur Gottförmigkeit durch Christus «nicht nur für die Christgläubigen» gilt, «sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein», heisst es in Gaudium et Spes.

Wie andere Religionen aus ihrer eigenen Tradition heraus zu solchen inklusiven Aussagen kommen können, statt die Welt religiös zwischen uns und den anderen zu teilen: Das ist eine der wichtigsten Herausforderungen des religionstheologischen Dialogs.

Was können christliche und muslimische Teilnehmer von diesem Workshop mit nach Hause nehmen?

Delgado: Dass in der Geschichte des Christentums manche Religionspathologien mühsam überwunden wurden und dass seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die exklusivistische und ekklesiozentrische Theologie des «Extra ecclesiam nulla salus» (»Ausserhalb der Kirche gibt es kein Heil») dem inklusivistischen christozentrischen Denken des «Extra Christum nulla salus» Platz machte.

Einen «islamischen Inklusivismus» zu entwickeln sollte für muslimische Theologen und Theologinnen das Gebot der Stunde sein.

Aber wer ist denn schon wirklich «ausser(halb) Christus», wenn er «für alle» gestorben ist und «der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein»? Einen ähnlichen «islamischen Inklusivismus» zu entwickeln, sollte für muslimische Theologen und Theologinnen das Gebot der Stunde sein.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/der-islam-braucht-eine-theologie-der-einbeziehung-anderer-religionen/