Mit religiösen Augen auf der Piazza Grande von Locarno

Locarno, 2.8.17 (kath.ch) Mit dem 70. Locarno Festival feiert die Schweiz vom 2. bis 12. August 2017 einen Höhepunkt des kulturellen Kalenders. In dem reichhaltigen Programm gibt es besondere Filme, die sich für ein sozial engagiertes und religiös interessiertes Publikum lohnen. Charles Martig präsentiert eine Auswahl von Filmen.

Charles Martig

Im Film sind es die alltäglichen Geschichten mit ihren existentiellen, sozialen und politischen Fragen, die zählen. Damit werden auch religiöse Fragen selbstverständlich zum Thema, auch wenn sie nicht immer explizit ausformuliert oder gezeigt werden. Filmfestivals sind demzufolge auch ein Ort des Glaubens.

Vielversprechend ist bereits der Eröffnungsfilm «Demain et tous les autres jours» der Französin Noémie Lvovsky. Sie erzählt von einem Scheidungskind. Mathilde ist neun und lebt allein mit ihrer Mutter, die ein fragiles Wesen an der Grenze zum Wahnsinn darstellt. Welche Schwierigkeiten dies für Mathilde bringt und warum sie ihre Mutter liebt, ist an der Weltpremiere des Dramas zu erleben.

David und Goliath – Männerbild auf dem Prüfstand

Besondere Erwartungen weckt auch der Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb. «Goliath» von Dominik Locher erzählt von einem jungen Mann, David, der bald Vater wird. Dabei gerät er nach einem tätlichen Angriff auf seine Freundin und ihn in eine Krise. Er beginnt mit Krafttraining und Stereoiden seinen Körper aufzubauen und sein verlorenes Selbstvertrauen zu suchen. Dabei wird er selbst zur Gefahr für die junge Mutter, Jessy, und das ungeborene Kind. Nicht nur wegen seiner Anlehnung an das Bild von David und Goliath ist der Film interessant. Lochers Porträt ist ein Beitrag zum Männerbild in unserer Gesellschaft, das in einer Situation der Verflüssigung und Verunsicherung neue Wege der Selbstbestätigung sucht.

Blick in den Alltag von Nazareth

Wer eine spannende Geschichte aus dem heutigen Nazareth sehen möchte, schaut sich in Locarno «Wajib» von Annemarie Jacir an. Der Verleiher trigon-film bringt diesen 2018 in die Schweizer Kinos. Er ist bereits jetzt in einer Weltpremiere im Tessin zu sehen. Nach Angaben von trigon geht es um den Architekten Shadi, der nach langem Aufenthalt in Rom an seinen Heimatort Nazareth zurückkehrt. Er soll seinem Vater dabei helfen, die Einladungen zur Hochzeit seiner Schwester persönlich zu überbringen. Die Familienmitglieder haben sich durch die lange Abwesenheit Shadis voneinander entfremdet. Auf einer Reise werden sie auf die Probe gestellt. «Wajib» konkurriert im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden und den Preis der Ökumenischen Jury.

Willkommen in der Schweiz

Im Panorama des Schweizer Films wird eine Auswahl von wichtigen Filmen der letzten zwölf Monaten gezeigt. In dieser Sektion lohnt sich «Finsteres Glück» von Stefan Haupt. Der Spielfilm wurde von der Katholischen Kirche im Kanton Zürich unterstützt. Haupt geht von einem Kinderschicksal aus und wählt als Ausgangspunkt eine Sonnenfinsternis als Metapher für die Befindlichkeit des Buben.

Bei den Schweizer Filmen ist zudem auch Sabine Gisigers Dokumentarfilm «Willkommen in der Schweiz» zu empfehlen. Ausgehend von den Ereignissen in Oberwil-Lieli erzählt der Film gleichnishaft von der Schweiz in Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise.

Blick in die Filmgeschichte – Godard und Polanski

Eine Sensation stellt die Vorführung eines bisher unbekannten Films von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1986 dar. «Grandeur et décadence d’un petit commerce de cinéma» verspricht eine Selbstreflexion auf das Kino aus Sicht von Godard. Christian Jungen von der NZZ am Sonntag hat ihn bereits vor dem Festival gesehen und spricht von einem «Meisterwerk». Wer sich also von der avantgardistischen Filmsprache nicht abschrecken lässt, kann mit «Grandeur et décadence» eine Entdeckung machen.

Ein besonderer Anlass ist zudem die Reprise des Films «The Pianist» von Roman Polanski. Sein Hauptdarsteller Adrien Brody wird mit dem Leopard Club Award ausgezeichnet. Aus diesem Anlass wird das Holocaust-Drama erneut gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte eines Klavierspielers im Warschauer Ghetto. Der Virtuose Wladyslaw Szpilman gibt eines seiner beliebten Konzerte am polnischen Radio. Plötzlich schlägt eine Bombe der deutschen Wehrmacht ein und zerstört den Sender. Damit ist der Musiker (Adrien Brody) am Anfang seines Leidensweges durch das Warschauer Ghetto. Er wird dort mit seiner Familie eingesperrt, erleidet Demütigungen und Qualen als Zwangsarbeiter. Es gelingt ihm jedoch, der Deportation zu entkommen und den Krieg in wechselnden Verstecken zu überleben.

Roman Polanski knüpft an eigene Kindheitserfahrungen an: Als Überlebender des Krakauer Ghettos und des Warschauer Bombardements wollte er schon lange einen Film über dieses schreckliche Kapitel der polnischen Geschichte drehen. Der Film sollte aber nicht autobiographisch sein. Mit den Memoiren von Szpilman, der seine Erinnerungen unmittelbar nach dem Krieg niedergeschrieben hat, stiess Polanski auf den geeigneten Stoff. Der Regisseur hat daraus einen sehr menschlichen und versöhnlichen Film gemacht, der sich stark am Production-Design von «Schindlers Liste» orientiert. Einen eigenständigen Weg geht er in der Erzählperspektive. «The Pianist» bleibt nicht auf der Ebene der Identifikation mit den Opfern stehen, sondern wählt eine mittlere Distanz. Diese teilnehmende Beobachtung besonders im zweiten Teil bildet die grosse Stärke des Films – eine filmische Geschichtsschreibung, die bleibende Erlebnisse vermittelt und lange nachwirkt.

Joachim Valentin ist Präsident der Ökumenischen Jury

Am 70. Locarno Festival wird die Ökumenische Jury der Kirchen einen Film aus dem internationalen Wettbewerb auszeichnen. Präsident ist der Theologe und Filmexperte Joachim Valentin aus Frankfurt. Er ist Direktor des Haus am Dom und Mitglied der «Forschungsgruppe Film und Theologie».

Offizielle Webseite Locarno Festival www.pardo.ch

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/locarno-festival-religion-jury-film/