Missbrauchsbuch Pittet: Rekonstruktion der Ereignisse im Bistum LGF

Zürich, 5.4.17 (kath.ch) Der Kapuziner Joël Allaz war zum Zeitpunkt, als dessen sexuelle Übergriffe gegenüber Daniel Pittet geschahen, im Bistum Lausanne, Genf, Freiburg (LGF) angestellt. Im medialen Fokus standen bisher die Kapuziner. Doch welche Rolle spielte das Bistum nach Bekanntwerden der Übergriffe? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Sylvia Stam

Wir sprechen vom Jahr 1989. Zu dieser Zeit war Pierre Mamie († 2008) Bischof im Bistum LGF, wo der Kapuziner Joël Allaz angestellt war. Jean-Claude Périsset, der heute als Priester im Ruhestand wieder im Bistum LGF lebt, war damals Offizial (Gerichtsvikar) im Bistum und somit für die innerkirchliche Rechtssprechung zuständig. In diesem Jahr, 21 Jahre nach den ersten Übergriffen, informierte Daniel Pittet Périsset über die sexuellen Übergriffe durch Joël Allaz.

«Ich glaube Ihnen» wird Périsset im Buch von Pittet zitiert. Pittet ist Périsset bis heute sehr dankbar dafür, dass er ihm sofort geglaubt hat, wie er gegenüber kath.ch mitteilt. Der Offizial habe ihm versprochen, dass Allaz versetzt und seiner pastoralen Aufgaben enthoben werde, darüber hinaus müsse er sich einer psychologischen Behandlung unterziehen, schreibt er dazu in seinem Buch. Gegenüber kath.ch erwähnt Pittet ausserdem, dass er damals auch Bischof Pierre Mamie informiert habe.

Versetzung nach Grenoble

Eine Versetzung des Täters nach Grenoble (F) fand tatsächlich statt. Dies geschah innerhalb von drei Tagen, in Absprache zwischen Mamie und Gervais Aeby, dem damaligen Provinzial der Kapuziner, der noch im selben Jahr tödlich verunglückte. Dies ist den Presseunterlagen der Untersuchungsrichterin zu entnehmen, die den Fall 2008 behandelte. Die Untersuchung zeigte auch, dass Allaz in Frankreich weiterhin pastoral tätig war und es hier zu weiteren sexuellen Übergriffen kam.

Darauf angesprochen, wie es möglich war, dass Allaz weiterhin als Priester amten konnte, schreibt der heute 78-jährige Périsset auf Anfrage von kath.ch: «Sobald Pater Joël zugegeben hatte, dass er den kleinen Daniel sexuell missbraucht hatte, habe ich dem Regionaloberen der Westschweizer Kapuziner gesagt: ‘Also, dann wissen Sie, was zu tun ist'». Damit habe er gemeint, dass dieser gemäss seiner Verantwortung als Regionaloberer handeln solle. Konkreter äussert sich Périsset nicht dazu, «denn ich konnte nicht über seine Verantwortung entscheiden», schreibt er in einem Mail an kath.ch. In der gleichen Woche sei Allaz von seinem Amt als Katechet in Lully enthoben worden.

«Meine Rolle war erledigt»

Périsset, der später in mehreren europäischen Ländern, zuletzt in Deutschland, als Apostolischer Nuntius tätig war, erfuhr erst viel später von der Versetzung Allaz’ nach Frankreich, heisst es in seinem Mail weiter. Was genau zwischen Bischof Mamie und Provinzial Aeby besprochen wurde, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. «Meine Rolle war erledigt, als die Oberen von Pater Joël wussten, was sie zu tun hatten, nachdem der Missbrauch von Daniel Pittet anerkannt wurde», schreibt Périsset dazu.

Gemäss den Unterlagen der Untersuchungsrichterin findet sich in den Archiven des Bistums zur Versetzung nur ein einziger Satz: «Bruder Joël Allaz wurde nach Grenoble versetzt». In den Archiven des Offizialats bezeugten ein paar Notizen von Périsset die Aussagen von Pittet. Es sei jedoch weder Strafanzeige erstattet, noch ein kanonisches Verfahren eingeleitet worden. Die Taten von Joël Allaz seien noch nicht einmal genauer untersucht worden, hält die Untersuchungsrichterin fest.

Périsset rechtfertigt sein Verhalten auf Anfrage von kath.ch damit, dass der Fall 1989 bereits verjährt war. Nach dem damals geltenden staatlichen Recht verjährten sexuelle Übergriffe nach zehn Jahren, nach dem damaligen kanonischen Recht aus dem Jahr 1983 bereits nach fünf Jahren. Nach den heute geltenden, im Jahre 2010 in Kraft gesetzten kanonischen Richtlinien verjähren sexuelle Übergriffe an Minderjährigen zwanzig Jahre, nachdem das Opfer das 18. Lebensjahr erreicht hat.

Begünstigung?

Die Untersuchungsrichterin hält die Frage dennoch für legitim, ob sich die oben erwähnten Verantwortlichen damit der Begünstigung schuldig gemacht haben. Gemäss Artikel 305 des Strafgesetzbuches ist es strafbar, eine Person der Strafverfolgung zu entziehen. Weil dieses Vergehen jedoch nach sieben Jahren verjährt, stellte sich diese Frage schon 2008 nicht mehr.

Auch kirchenrechtlich sei der Fall verjährt, antwortet der aktuelle Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, auf Anfrage und fügt hinzu, dass Périsset als Offizial in seinen Handlungen nicht unabhängig gewesen sei. Gemäss Joseph M. Bonnemain, Offizial im Bistum Chur und Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz, kann man nicht von einer kirchenrechtlich verjährten Handlung sprechen. Denn das Versäumnis von Périsset, für eine wahrscheinliche Straftat keine kirchenrechtliche Untersuchung eingeleitet zu haben, sei kirchenrechtlich nicht als Straftat einzustufen. Bonnemain weist darauf hin, dass erst seit einem Jahr Bischöfe, die eine solche Abklärung unterlassen, kirchenrechtlich belangt werden können.

Die Bischöfe Grab und Genoud

Amédée Grab, der als Nachfolger von Pierre Mamie von 1995 bis 1998 Bischof von LGF war, wusste offenbar nichts von den sexuellen Übergriffen durch Allaz, wie er gegenüber kath.ch sagte. Als Pittet 2002 erfuhr, dass Allaz in Frankreich weiterhin pastoral tätig war, wandte er sich erneut ans Bistum, diesmal direkt an Bischof Bernard Genoud (+ 2010), wie er in seinem Buch schreibt.

Unter Genoud setzte das Bistum LGF eine Präventionskommission (»Commission SOS Prévention») ein, bei welcher sich auch zwei weitere mutmassliche Opfer von Allaz meldeten. Informationen aus dieser Kommission bildeten unter anderen die Basis für eine gerichtliche Untersuchung des Falles, die 2008 in Freiburg stattfand, wie der gemeinsamen Mitteilung des Bistums LGF und der Schweizer Kapuzinerprovinz vom 13. Februar dieses Jahres zu entnehmen ist.

2012 verurteilt

Die Voruntersuchung konnte damals 22 Opfer identifizieren, deren Fälle alle bereits verjährt waren. Allaz selber hatte in der Untersuchung jedoch zwei weitere Opfer aus Frankreich genannt, weshalb das Dossier nach Grenoble weitergeleitet wurde. 2012 wurde Allaz in Grenoble für sexuelle Übergriffe, die zwischen 1992 und 1995 in Frankreich stattgefunden hatten, zu einer Haftstrafe von zwei Jahren bedingt verurteilt. Das Gericht verordnete damals keine weiteren Präventivmassnahmen.

Dennoch ist das Erscheinen des Buchs von Daniel Pittet sowohl für das Bistum LGF wie für die Kapuziner Anlass, den Fall Joël Allaz noch einmal untersuchen zu lassen, wie es in der erwähnten Mitteilung heisst. (aktualisiert: 7.4.17)


Schweizer Missbrauchsopfer veröffentlicht Enthüllungsbuch mit Vorwort des Papstes

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/missbrauchsbuch-pittet-rekonstruktion-der-ereignisse-im-bistum-lgf/