«Religiöse Erfahrung sitzt nicht an einem Ort im Gehirn, sondern fast überall»

Freiburg i.Ü., 28.3.17 (kath.ch) Bei spirituellen Erlebnissen sind fast im ganzen Gehirn neuronale Aktivitäten messbar. Und langfristige Meditation hat Folgen fürs Gehirn. Das hat der Neurowissenschaftler und Philosoph Günter Rager aus der Forschung anderer Neurowissenschaftler herausgelesen. Im Gespräch kritisiert er Kollegen, die bei der Interpretation ihrer Resultate über die Neurowissenschaften hinausgehen. Das sei Ideologie, so Rager.

Regula Pfeifer

Wissen die Neurowissenschaftler, wo der Glaube im Gehirn angesiedelt ist?

Günter Rager: Nein, darum geht es nicht. Neurowissenschaftler untersuchen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen meditieren oder beten.

Was haben sie herausgefunden?

Rager: Sie haben festgestellt, dass dann im Stirnhirn und im Schläfenlappen besondere Aktivitäten stattfinden. Die Resultate unterscheiden sich je nach Untersuchungsmethode. Andrew Newbergs Methode erlaubt nicht, diese Aktivitäten genauer zu lokalisieren. Mario Beauregard hat durch eine Kombination von funktioneller Magnetresonanztomographie und von quantitativer Elektroenzephalographie – zwei bildgebenden Messmethoden – zeigen können, dass viele Orte im Gehirn betroffen sind, wenn solche religiöse Aktivitäten stattfinden.

Zwei bildgebende Messmethoden zeigen, dass viele Orte im Gehirn betroffen sind.

Was heisst das?

Rager: Daraus kann man schliessen, dass die Idee von Gott oder der Glaube oder die religiöse Erfahrung nicht an irgendeinem bestimmten Ort im Gehirn sitzt. Vielmehr ist fast das ganze Gehirn davon betroffen.

Ist spirituelle Erfahrung ein rein physikalisch-chemischer Prozess?

Rager: Die Befunde der Neurowissenschaftler erlauben keine Aussage darüber, ob spirituelle Erfahrung mehr ist als ein physikalisch-chemischer Prozess. Einige Neurowissenschaftler sehen das selbst so. Andrew Newberg und Mario Beauregard etwa sagen, dass ihre Befunde keinerlei Aussagen über das Erleben zulassen. Andere aber meinen, sie hätten bei ihren Erkenntnissen mit Hilfe von physikalisch-chemischen Prozessen auch das Erleben erklärt. Wer so etwas behauptet, argumentiert aber nicht wissenschaftlich, sondern weltanschaulich.

Neurowissenschaftler, die das Erleben erklären wollen, argumentieren weltanschaulich.

Gefährdet so eine Interpretation das Verständnis von Spiritualität?

Rager: Das nicht gerade. Aber so etwas kann man wissenschaftlich, philosophisch und theologisch nicht vertreten. Insofern ist es einfach, solche Interpretationen zu widerlegen. Meinungen sind gerechtfertigt, wenn sie wissenschaftlich erwiesen sind. Das ist hier nicht der Fall.

Was ist denn mit dem spirituellen Erleben?

Rager: Zwei unterschiedliche Perspektiven auf ein religiöses Erlebnis sind möglich: die Beobachterperspektive – das ist die wissenschaftliche – und die Teilnehmerperspektive. Letztere ist eine rein subjektive Erfahrung. Mit der Beobachterperspektive beziehungsweise der wissenschaftlichen Perspektive kann ich untersuchen, was im Gehirn eines anderen Menschen stattfindet. Bei der Teilnehmerperspektive erlebe ich die Situation selbst; das ist etwas ganz anderes.

Kann man dieses Erleben wissenschaftlich erforschen?

Rager: Das geht nicht. Wenn ich anderen Menschen von meinem Erlebnis erzähle, können die das nachempfinden. Aber wissenschaftlich untersuchen können sie es nicht.

Das Erlebnis können wir nicht wissenschaftlich untersuchen.

Spirituelle Erfahrung wirkt sich auf das Gehirn aus, haben Sie einmal gesagt. Inwiefern?

Rager: Ja, natürlich, das ist der Grund, weshalb die Neurowissenschaften darüber forschen. Das Gehirn wird durch die spirituelle Erfahrung verändert. Es wird anders aktiviert als sonst. Leute, die jahrzehntelang regelmässig meditieren, haben nachweislich besondere Aktivitäten im Gehirn, auch wenn sie gerade nicht meditieren. Das Gehirn hat sich also verändert.

Es ist eine altbekannte Tatsache, dass jeder Denk- und Lernprozess das Gehirn verändert. Das Gehirn ist ein unheimlich anpassungsfähiges Organ, das sich je nachdem, womit es sich auseinandersetzt, entsprechend verändert. Bei den unüberschaubar vielen Synapsen – also den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – findet ein ständiger Aufbau, Umbau und eine Neustrukturierung statt.

Könnte man also sagen, dass spirituelle Erfahrungen gut sind für das Gehirn?

Rager: Dafür fehlen uns die Untersuchungen. Aber Sie können das aus persönlicher Perspektive beurteilen. Wenn Sie sich beim Beten oder Meditieren wohl fühlen, wenn es Ihnen Auftrieb gibt in Ihrem Leben, dann kann man daraus schliessen, dass das Ihnen als Mensch – nicht bloss dem Gehirn – guttut.

Das wird ja auch in den Kirchenliedern gesungen: Jemand, der sich in Gott geborgen fühlt, führt ein anderes Leben als jemand, der traurig ist und am Leben verzweifelt. Das sind aber Phänomene im Bereich der subjektiven Erfahrung. Bis jetzt wurde noch nicht untersucht, ob solche Menschen etwa länger leben, andere Blutzucker- oder Blutdruckwerte haben.

Bis jetzt wurde noch nicht untersucht, ob gläubige Menschen länger leben.

Neurowissenschaften schauen die Religion naturwissenschaftlich an. Gefährdet das die Religion?

Rager: Das spielt für die Religion überhaupt keine Rolle. Mir macht es zum Beispiel gar nichts aus zu wissen, dass an vielen Orten im Gehirn Aktivitäten stattfinden, wenn ich meditiere. Das ändert nichts an meiner Meditation, an meiner Erfahrung in der Meditation. Ich ziehe daraus den Schluss: Ich bin ein Mensch, habe also einen Leib und ein Gehirn. Und wenn ich etwas erfahre, ist klar, dass mein ganzer Körper da mitbeteiligt ist.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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