Ethik-Talk in St. Gallen: «Es geht in erster Linie um Menschen»

St. Gallen, 4. 3. 17 (kath.ch) Einwanderung aus Sicht eines Theologen und eines Justizministers. Das war Thema am «Ethik-Talk» vom Donnerstag in St. Gallen. Während der evangelische Theologe Frank Jehle die christlich-sozialethische Dimension hervorhob, brachte der St. Galler Justizdirektor Fredy Fässler den sicherheitspolitischen Aspekt ins Spiel. Die Veranstaltung wurde von der katholischen Arbeitnehmerbewegung organisiert.

Evelyne Graf

Pfarrer Frank Jehle, ehemaliger Dozent für evangelische Theologie an der Universität St. Gallen, nahm zunächst Bezug auf Geschichten in der Bibel: «Die Gründe, weshalb jemand seine Heimat verlassen und in der Fremde leben muss sind in der Bibel mannigfaltig.» Von den Angehörigen der christlichen Gemeinde, dem «wandernden Gottesvolk», werde etwa im Hebräerbrief gesagt: «Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir» (Hebräer 13,14).

Feinfühliger werden

«Wenn wir in der Bibel lesen, können wir hellhöriger und feinfühliger werden, um Migrantinnen und Migranten besser zu verstehen», so Jehle und wies darauf hin, dass es bereits im Alten Testament heisse: «Wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrängen. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Du sollst ihn lieben, wie dich selbst.» (Buch Levitikus 19,33f).

Doch Jehle ist sich bewusst, dass Immigration verunsichern, Ängste hervorrufen und gar als Bedrohung erscheinen kann. «Als Theologe fühle ich mich nicht in der Lage, gewissermassen von oben herab zu deklarieren, wie man heute in der Schweiz die aktuellen Probleme im Zusammenhang mit dem Phänomen der Migration lösen soll.» Dennoch brachte er aus der Perspektive christlichen Glaubens drei Stichworte ins Spiel: Gelassenheit, Sachlichkeit und Barmherzigkeit.

Flüchtlingsproblem statt Flüchtlingskrise

«Mir fällt auf, dass zum Thema Migration die angemessene Sachlichkeit oft zu kurz kommt», erläuterte der Theologe den ersten Begriff. «Etwa dann, wenn man in der Schweiz pauschal von einer Flüchtlingskrise spricht und vom Versagen der Behörden.» Eine echte Krise gebe etwa in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten oder in Afrika, wo Hunderttausende unter oft unmenschlichen Bedingungen dahinvegetierten. «In der Schweiz haben wir allenfalls ein Flüchtlingsproblem.» Die wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes Zusammenleben mit Immigranten seien Einfühlungsvermögen und Phantasie, Grundlage sei das Doppelgebot, Gott und den Nächsten zu lieben.

Werte brauchen Recht

Fredy Fässler ist als St. Galler Regierungsrat (SP) und Vorsteher des Sicherheits- und Justizdepartementes zuständig für die Wegweisung von Ausländern sowie für die Ausschaffungshaft. Grundlage dafür sei die geltende Rechtsordnung. Terroranschläge und Flüchtlingsströme «haben auch in der Schweiz den Ruf nach einer Besinnung auf die ‹eigenen› Werte geweckt», so Fässler. Diese sollten nach aussen hin verteidigt werden, an diesen sollten die Gesellschaften in Krisenzeiten Halt finden. «Doch gibt es überhaupt eine solche Wertegemeinschaft?», fragte Fässler kritisch.

Gefahr des Rechtsradikalismus

Beim Ruf nach Rückbesinnung auf die eigenen Werte bestehe die Gefahr, dass Werte gegen Grundrechte ausgespielt würden. Dabei würden Migranten für diese Wertegemeinschaft als Bedrohung empfunden. Nicht mehr «Multi-Kulti», sondern eine «Einheitskultur» werde propagiert. Der Schritt zu Patrioten, Rechtsradikalen und Nazis sei dabei nicht mehr weit, warnte Fässler.

Grundanliegen des Rechtsstaates sei es, im Staat die Herrschaft des Rechts und damit verbunden, die Freiheit des Menschen sicherzustellen. «Der Regierung ist es ein Anliegen, dass der Kanton bei der Extremismusprävention insbesondere auch in den Feldern Bildung, Religion, Sozialwesen und Integration gut aufgestellt ist.» Er sei daher gespannt auf den Nationalen Aktionsplan ‹Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus›.

Was ist das Gute?

Um die Frage «Was ist das Gute konkret?» ging es in der anschliessenden Podiumsdiskussion mit den Referenten sowie Ursula Surber, ehemalige Präsidentin des Vereins Solidaritätshaus St. Gallen. Sie plädierte für ein gelingendes Zusammenleben von Schweizern und Immigranten. «Wir müssen vielfältige Begegnungen schaffen, um mit Migranten in Kontakt zu kommen, um ihr Schicksal zu verstehen. Sie wurden aus ihrem bisherigen Leben gerissen und sind nun in ein neues Leben, eine neue Kultur hineingeworfen. Sie leben mit einer grossen Hoffnung auf Zukunft», erklärte Surber. Sie bedauerte, dass das Asylgesetz in den letzten Jahren verschärft wurde.

Fässler gab zu bedenken, dass den Behörden ein gewisser Spielraum bei der Umsetzung der Gesetze gegeben sei. Jehle sieht den Rechtsstaat als «hohes Gut». Es gelte, die Möglichkeiten auszuschöpfen; es gebe auch «barmherzige» Beamte. Fässler begrüsste, dass die Asylverfahren verkürzt werden sollen, damit eine raschere Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt möglich werde. Dies stärke auch ihr Selbstwertgefühl. «Es geht in erster Linie um Menschen», betonte er abschliessend.

Die Veranstaltung wurde von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) St. Gallen organisiert und mitgetragen von Caritas St. Gallen/Appenzell, der katholischen und der evangelischen Universitätsseelsorge der Hochschule St. Gallen, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (Regionalstelle Ostschweiz) sowie vom St. Galler Amt für Gesellschaftsfragen. Sie fand im Festsaal Katharinen in St. Gallen statt. (sys)

 

 

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