«Grichtings Bumerang und die Moral der Kirche»

Chur, 24.7.17 (kath.ch) Der Churer Generalvikar Martin Grichting schlug in einem Kommentar für die Zeitung «Blick» einen Bogen vom Pädophilie-Fall «Joël Allaz» zu einem kirchlichen, «achtsamen linksgrünen Leben». Der Generalvikar offenbare damit einen hochgradigen Mangel, was das Verständnis moralischer Debatten und der kirchlichen Beteiligung daran betrifft, schreibt Hanspeter Schmitt in seinem Gastkommentar. Schmitt  lehrt Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.

Zurecht wird derzeit wieder über verheerende Taten sexueller Gewalt diskutiert, die auch von kirchlichen Amtsträgern verübt worden sind. Dabei warnt Martin Grichting, Generalvikar des Bistums Chur, im Blick vom 21. Februar die Kirche davor, sich als «Moralinspenderin der Welt» aufzuspielen. Das könne wie ein Bumerang wirken, der sich kritisch gegen das Fehlverhalten der kirchlich Tätigen wendet.

An Grichtings Strategie hat sich Bistumssprecher Giuseppe Gracia offensichtlich nicht gehalten

Worum es Grichting aber genau geht, bleibt zunächst trotz (oder wegen?) seiner wie immer bildertrunkenen Sprache unklar: Empfiehlt er der Kirche, sich strategisch herauszuhalten, um nicht selbst kritischen Rückfragen ausgesetzt zu sein? Eine Strategie, an die sich Bistumssprecher Guiseppe Gracia nach jüngsten Medienberichten offensichtlich nicht gehalten hat!

Oder es geht Grichting um den Verzicht auf ein in der Tat überflüssiges kirchliches Moralgebaren, sofern es einseitig, überfordernd oder unangemessen daher kommt? Dann versteht man aber nicht, dass ausgerechnet er sich oft vehement als ein solcher Moralspender hervorgetan hat: etwa im Rahmen der letzten Weltbischofssynoden mit öffentlichen Einlassungen zu Fragen der Familien- und Sexualmoral.

Es kommt folglich auch bei ihm einiges an «gepredigter» Moral zusammen, zumal wenn man jene Hirtenworte hinzunimmt, die sein Vorgesetzter Bischof Vitus Huonder vermutlich mit seiner Beratung in den letzten Jahren publizierte: Sie stellen geradezu eine Staffel moralisch bemühter Äusserungen dar, die von Ehemoral, Sexualerziehung und Gendertheorien über Menschenwürde und Ökologie bis zu Fragen der Sterbehilfe reicht. Selbstredend ist jeder frei in der Wahl seiner Themen. Aber wie passt das alles zur Zurückhaltung, die jetzt von Grichting angesichts der laufenden Debatte gefordert wird?

Aufklärung und Dialog werden blockiert

Grichtings «Logik», die ihn nach dem Bumerang greifen lässt, zeigt sich erst bei nochmaligem Hinsehen: Namentlich prangert er den «hochgradigen Moralismus» von Religionsgemeinschaften und Kirchen an, der «politische Botschaften» enthält und zu einem «achtsamen linksgrünen Leben» führen will. Einmal abgesehen davon, dass dieser Vorwurf auch nicht besonders unpolitisch ist: Er offenbart einen hochgradigen Mangel, was das Verständnis moralischer Debatten und der kirchlichen Beteiligung daran betrifft, einen Mangel, der – wider Willen – auf Kosten der Opfer sexueller Gewalt zu gehen droht. Sie brauchen neben Respekt, Empathie und Partnerschaftlichkeit jetzt umfassende ethische, vor allem gesellschafts-, politik- und institutionenkritische Analysen.

Dabei müssen sich Kirchen wie alle Institutionen und Bereiche, die für sexuelle und andere Gewaltformen anfällig sind, selbstkritisch, transparent und produktiv verhalten. Hingegen seinen Fokus auf unliebsame «linksgrüne» Ansichten zu lenken, um danach ethisch nötigen Reflexionen in der Kirche einen Maulkorb zu verpassen, ist kontraproduktiv und fahrlässig. Es blockiert Aufklärung, Dialog wie Wahrhaftigkeit und humane Entwicklungen, für die die Kirchen auf dem Boden des Evangeliums gerade zu stehen haben.

Es verdunkelt, wozu das Evangelium zugunsten einer gläubigen Praxis einlädt

Selbstverständlich gebührt der Moral und ihren Normen dabei nicht der erste und entscheidende Rang – erst recht keinem autoritär nötigenden Moralismus, wie er von kirchlich Verantwortlichen allzu lange geübt wurde. Und selbstverständlich haben christlicher Glaube, Theologie und Sakramente Potentiale, die Ethik und Moral nicht selbst hervorbringen können. Jedoch diese Potentiale – mit dem Hinweis auf Auferstehung und Jenseits – der politischen oder sittlichen Verantwortung gegenüberzustellen anstatt sie mit ihnen zu verbinden, könnte für Grichting zum Bumerang werden.

Denn es verdunkelt, wozu das Evangelium zugunsten einer gläubigen Praxis beziehungsweise eines praktischen Glaubens einlädt. Genau deshalb verbindet das Lehramt unter Papst Franziskus beides: die Anliegen menschlich angemessener Formen von Politik, Ökologie, Wirtschaft und Familie mit dem christlichen Vertrauen auf eine Güte Gottes, die niemanden ausgrenzt und Engagement wie pastorales Handeln für Welt und Zeit motiviert.

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