«Wir haben den Tod ermordet»

Zürich, 10.2.17 (kath.ch) Sterben und Tod sind Begriffe, die mit Leid und Trauer assoziiert werden. Die Vernissage des Buches «Leben, Tod und Selbstbestimmung» von Denis Battaglia (9. Februar) in der Zürcher Buchhandlung Sphères zeigte jedoch das Gegenteil: Wie das Reden über den Tod zufriedener machen kann.

Francesca Trento

«Wer ein gutes, erfülltes Leben gelebt hat, der stirbt leichter.» Darüber waren sich die Gesprächsteilnehmer an der Vernissage einig. «Aber was ist ein gutes, erfülltes Leben?», fragte Denise Battaglia, die Autorin des Buches «Leben, Tod und Selbstbestimmung», in die Runde.

Die Antwort habe sie unter anderem bei der Bestsellerautorin Bronnie Ware gefunden. Diese verbrachte mit Sterbenden deren letzten Wochen und bekam vor allem diese fünf Antworten: Ich bereue am meisten,

Als Battaglia diese fünf «Reuesätze» aussprach, war im Publikum ein betroffenes Seufzen zu hören. Die Gedanken der Zuhörerinnen und Zuhörer waren fast hörbar: «Bereue ich diese Sachen nicht schon jetzt?»

Dass ich den Kontakt mit meinen Freunden nicht gepflegt habe

«Lonelyness is like an iceberg. It goes deeper than we can see» (Einsamkeit ist wie ein Eisberg. Es ist tiefer, als wir sehen können). Es sei erwiesen, dass Menschen, die in Beziehungen zu Freunden oder Familie stehen, glücklicher und gesünder sind, meinte Battaglia. Einsamkeit schlage nicht nur aufs Gemüt, sondern auch auf den Körper.

Das schönste am Älterwerden ist, dass ich nichts mehr muss

Dem stimmte Judith Stamm, eine der drei Gesprächsteilnehmerinnen auf dem Podium, zu. Die ehemaligen CVP-Nationalrätin und Juristin ist jetzt 82 Jahre alt. Sie habe ein Leben mit viel Arbeit und Beschäftigungen hinter sich. «Ich war schon immer ein Clübbli-Mensch», meinte Stamm munter. «Diese Treffen waren fest in meiner Agenda integriert. Ich kam also nicht darum herum, Beziehungen zu pflegen.»  Ohne diese wäre sie vielleicht nicht so fit, wie sie jetzt ist – und zwinkerte einer Bekannten im Publikum zu.

Dass ich zu viel gearbeitet habe

Das Thema «zu viel arbeiten» sei selbsterklärend, so Battaglia. Sie erzählte von einem ehemaligen erfolgreichen Manager, der das Buch von Bronnie Ware über die Reuesätze gelesen habe. «Er kündigte seinen Job und wurde Sterbebegleiter und Tantra-Lehrer», meinte sie schmunzelnd. Sie fragte Stamm, was das Schönste am Älterwerden sei. «Das Schönste daran ist, dass ich nichts mehr muss», war die Antwort.

Dass ich mir nicht erlaubt habe, glücklich zu sein

Der Philosoph Jean-Pierre Wils, ein weiterer Gesprächsteilnehmer, beschäftigt sich als Professor an der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden unter anderem mit dem Tod, der für ihn jedoch Hand in Hand mit dem Leben gehe. «Früher waren die Toten ein Teil der Gesellschaft. Irgendwann rückte man sie immer weiter weg aus dem Alltag, bis sie praktisch verschwanden», so Wils. Wenn jemand sterbe, gehöre er zur Vergangenheit. Zurück wolle heute niemand mehr schauen. Die Menschen blickten heute lieber in die Zukunft. «Die Toten stehen einem ja nur im Weg.»

Mich tschudderets immer, wenn ich daran denke.

Dieses «in die Zukunft blicken» hindere einen jedoch oft am glücklich sein, so Battaglia. «Den Moment auskosten, das Glück leben, kann man nur im Jetzt», fügte sie hinzu. Ihr erzählte, während sie am Buch arbeitete, Palliativmediziner Roland Kunz die Geschichte eines todkranken 50-jährigen. Dieser hatte 18 Jahre lang ein Pferd. So liess man es zur Palliative Care-Station des Bezirksspitals Affoltern am Albis bringen. «Als er das Pferd sah», so Battaglia, «es umarmte, anfing zu weinen, war sein Glück in diesem Moment überwältigend.» Dieser Moment sei Ausdruck davon gewesen, was Gefühle ausdrücken können, wenn jemand glücklich ist. «Mich tschudderets immer wieder, wenn ich daran denke», so Battaglia weiter.

Das Leben nach dem Tod

«Die meisten Patienten, die mir begegnen, glauben nicht an ein Leben nach dem Tod», meinte der Palliativmediziner Andreas Weber, dritter Gesprächsteilnehmer. Wichtig sei ihnen, dass sie in den Erinnerungen der Angehörigen weiterleben würden, sagte der Ärztliche Leiter Palliative Care am GZO Spital in Wetzikon ZH.

Obwohl das Buch von Denise Battaglia viel mit dem Tod zu tun hat, ging es ihr darum, das Leben in den Vordergrund zu rücken, meinte die Autorin. Das sei auch im Wunsch von Sterbenden zu sehen, die sich wünschen, in Erinnerungen weiterleben zu können.

Die Universitäten finden das Thema fies

Man müsse sich mehr mit dem Tod auseinandersetzen, so Wils, der dafür den Schriftsteller Elias Canetti zitierte: «Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Wir haben den Tod ermordet.» Mit der Enttabuisierung des Todes, käme man dem «guten, erfüllten Leben» näher. «In der Literatur wagten es manche Autoren, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Wobei die Universitäten dieses Thema in den letzten Jahrzehnten ganz fies fanden – und es deshalb mieden», so der Philosoph. Am Ende des Gesprächs zeigten die zufriedenen Gesichter der Anwesenden jedoch: Über dieses «fiese» Thema zu sprechen, macht glücklich.

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