Zehntausende wurden auf beschämende Art zwangsversorgt

Bern, 18.1.17 (kath.ch) Mit der administrativen Versorgung wurden in der Schweiz über viele Jahrzehnte hinweg soziale Probleme in Heime und Anstalten abgeschoben. Das sagt Anne-Françoise Praz, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Sie gehört der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgung an. Diese stellte in Bern am Mittwoch der Presse einen Zwischenbericht und viele Fragen vor.

Georges Scherrer

Die Blütezeit der Einweisung von Menschen «mit einem nicht genehmen Lebenswandel» lag in den Krisenjahren, welche die Schweiz im vergangenen Jahrhundert erlebte. Seine Aussage illustrierte Martin Lengwiler, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel und ebenfalls Mitglied der Kommission, mit der Weltwirtschaftskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie der Zeit während des Zweiten Weltkrieges und den Nachkriegsjahren.

Problematische «Bravo»-Lektüre

Lengwiler schätzt, dass mehrere 10’000 Schweizer von der «Administrativen Versorgung» betroffen waren. Die Gründe waren ganz unterschiedlich. Betroffen von einer «langjährigen Einweisung» waren «Arbeitsscheue», Prostituierte, aber auch Frauen mit «vielen Kindern», weil diese aus der Sicht der Gesellschaft ein «liederliches» Leben führten. In den 1960er Jahren erfolgte die Massnahme bei Problemen mit Drogen- oder Medienkonsum, das heisst, Jugendliche, die «massenweise» etwa das Jugendheftchen «Bravo» lasen, konnten, von einer Einweisung bedroht sein.

Die Versorgung erfolgte in eine «halboffene» oder eine «geschlossene Anstalt». Dabei konnte es durchaus sein, dass die Betroffenen in eine Gewaltspirale gerieten, die ihre Lage verschärfte. In den «geschlossenen Anstalten» kamen sie mit Verbrechern in Kontakt und waren der internen Hierarchie der Gefangenen ausgesetzt.

Traumatische Erlebnisse

Bei den Zwangsversorgten, welche wegen einer Bagatelle eingesperrt und sich «keiner kriminellen Schuld bewusst» waren, löste diese Entwicklung «traumatische» Erfahrungen aus. Die Kommission untersucht nun seit 2014 im Auftrag des Bundes, wie viele dieser Menschen heute noch leben und finanziell entschädigt werden können. Meist führte die Einweisung zu einem immensen Einschnitt in die Lebensbiographie. Für eine spätere berufliche Qualifikation hatten diese Menschen schlechte Karten, so Lengwiler.

In der Willkür der Kantone

Die Freiburger Historikerin Anne-Françoise Praz wies darauf hin, dass der Umgang mit Menschen «mit einem nicht genehmen Lebenswandel» in den Kantonen ganz unterschiedlich war. In der Waadt befasste sich eine Kommission mit der Einweisung, im Kanton Freiburg genügte die Unterschrift des Distriktvorstehers.

Gemäss der bisher aufgearbeiteten Daten konnte es sein, dass in einem Kanton eher Frauen, im anderen eher Männer in die Maschen der Administration gerieten. Der gleichlautende Gesetzestext konnte zudem je nach Kanton verschieden interpretiert werden. Die Details sind noch Gegenstand der Forschung, auch die genaue Anzahl der Betroffenen.

Zwangseinweisungen und Verdingkinder

Die Administrative Versorgung darf nicht mit dem Schicksal der Verdingkinder verwechselt werden. Letztere landeten oft bei Bauern oder in katholischen Einrichtungen. Eine spezielle Kommission des Nationalfonds nimmt noch dieses Jahr ihre Arbeit auf, um deren Schicksal eingehend zu untersuchen. Die Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgung klammert diesen Aspekt der Schweizer Geschichte aus.

Bis 2019 will sie Klarheit im Bereich Administrative Versorgung schaffen, erklärte Kommissionspräsident Markus Notter, alt Regierungsrat des Kantons Zürich. Der Kommission stehen insgesamt 9,9 Millionen Franken Bundesgelder zur Verfügung. Sie beschäftigt 30 Mitarbeiter in verschiedenen Arbeitspensen.

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