«Friede soll Wirklichkeit werden, indem man etwas tut»

Zürich, 22.12.16 (kath.ch) Der Beginn des jüdischen Lichterfests Chanukka fällt dieses Jahr mit der christlichen Weihnacht zusammen. Warum das Fest bei Juden so populär ist und wie heutige Interpretationen des Festes aussehen, erklärt Michel Bollag, Fachreferent für das Judentum, im Interview mit kath.ch.

Sylvia Stam

Chanukka erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels 164 vor Chr. Wie feiert man ein solches Fest 2016?

Michel Bollag: Immer noch gleich wie etwa seit dem 4. Jahrhundert: Man sitzt als Familie zusammen und zündet zu Hause an einem achtarmigen Leuchter Kerzen an, und zwar jeden Abend eine mehr. In gewissen Familien zündet nur der Vater die Kerzen an, in anderen auch Frauen und Kinder.

Wird auch gesungen?

Bollag: Zuerst werden Segenssprüche gesprochen oder gesungen. Dann folgt ein Lied, in dem die verschiedenen Unterdrückungen und Errettungen des jüdischen Volks Thema sind. Vielleicht singt man nochmals ein Lied, das Essen ist bereit. Man isst vor allem Speisen, die in Öl frittiert wurden: Berliner und Kartoffelpuffer. In unseren Breitengraden wird gelegentlich auch Fondue Chinoise oder Bourguignonne gegessen. Ein sehr verbreiteter Brauch ist das gemeinsame Spiel, etwa mit dem «Trendl», einer Art Kreisel. Man kann um Geld oder um Nüsse spielen, auch ein Kartenspiel ist möglich.

Gibt es auch eine Bescherung?

Bollag: Auch Geschenke sind eine Tradition geworden, wenn auch nicht überall. Das ist sicher ein christlicher Einfluss. Allerdings kannten auch die Römer die Tradition von Geschenken an Festtagen.

Geschenke sind eine Tradition geworden. Das ist sicher ein christlicher Einfluss.

Ist ein Synagogenbesuch üblich?

Bollag: Je nachdem, wie sehr man religiöse Bräuche einhält. Die Kerzen werden auch in der Synagoge angezündet, denn man soll das Wunder verbreiten, es soll publik werden. Das Anzünden ist eine Pflicht, die dem Einzelnen obliegt, darum ist das Fest zu Hause wichtiger.

Was bedeuten die Lichter?

Bollag: Sie repräsentieren das geistige Licht, das wächst: das Licht der Thora (die hebräische Bibel mit den fünf Büchern Mose, d. Red.). Entsprechend sollte man nicht arbeiten, während sie brennen, sondern die Kerzen betrachten, mindestens eine halbe Stunde lang. Die Rabbinische Tradition hat das Chanukka-Fest zum Sieg der Thora über den Materialismus erklärt. Der Sieg des Geistigen über den Materialismus, der durch die griechische Kultur repräsentiert wird.

Was ist mit dem «geistigen Licht» gemeint?

Bollag: Licht in der Finsternis im übertragenen Sinn. Es geht um Frieden: Der Gedanke des Friedens muss im Judentum durch die religiöse Praxis des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Mitmenschen wachsen. Friede soll Wirklichkeit werden, indem man etwas tut. Die Thora ist das Fundament dazu. Wenn man ihre Praxis richtig versteht, also ihre Gebote einhält, kann dieses Licht sich vermehren.

Wie kann man Chanukka feiern, wenn alles rundherum Weihnachten feiert?

Bollag: Das Bedürfnis, in dieser Zeit Lichtfester zu feiern, ist in der nördlichen Hemisphäre etwas Überkulturelles. Weder die Juden noch die Christen haben das Lichterfest erfunden, sondern sie haben es vorgefunden. Es geht ja um die Sonnenwende, die Natur wird wiederbelebt. Im übertragenen Sinn muss die Wiederbelebung auch auf einer geistigen Ebene stattfinden. Jede Religion hat das mit anderen Motiven gefüllt.

Weder die Juden noch die Christen haben das Lichterfest erfunden.

Chanukka ermöglicht es aber auch, in einer Zeit, wo rundherum überall Lichter brennen, stolz zu sein auf die eigene Kultur und auf das eigene Fest.

Ist Chanukka in der jüdischen Tradition ebenso populär wie Weihnachten in der christlichen?

Bollag: Es hat natürlich nicht denselben zentralen Stellenwert, aber es ist sehr populär; ähnlich wie Pessach, wo der Auszug aus Ägypten und die Entstehung des Judentums gefeiert wird. Chanukka ist so beliebt, weil es ein Lichterfest ist, wenig Anstrengung braucht und nicht viele Gesetze damit verbunden sind. Was beide Feste populär macht, ist, dass jeder es auf seine Art interpretieren kann. Es geht ja um die Befreiung durch die Makkabäer (siehe Kasten). Später in der jüdischen Tradition mochte man diesen Bezug nicht mehr so, weil man ja auch Niederlagen erlitten hat, etwa gegen die Römer. Dennoch hat das Fest überlebt, weil man es neu interpretiert hat.

Das Fest hat überlebt, weil man es neu interpretiert hat.

Wie interpretiert man es denn heute?

Bollag: Die Hauptinterpretation der Rabbiner ist das Licht der Thora. Eine neue Interpretation, vor allem im Reformjudentum, ist die Idee der Religionsfreiheit. Voraus ging ja die Unterdrückung der jüdischen Religion. Und das wird im Reformjudentum gedeutet als Freiheit, die eigene Religion zu leben.

Chanukka dauert im Unterschied zu Weihnachten acht Tage. Die wachsende Zahl von Kerzen erinnert an den christlichen Advent. Ist der Beginn oder der Schluss dieser acht Tage besonders wichtig?

Bollag: Auch der Talmud fragt sich: Wann ist das Wunder am grössten? Geht es darum, dass es überhaupt ein Wunder gibt oder geht es um die volle Erfüllung des Lichts? Beide Ansichten sind richtig. Die Symbolik der Zahl acht ist auch von Bedeutung: Sieben ist der natürliche Rahmen – die Woche hat sieben Tage – und acht ist das, was über die Dimension des Irdischen hinausweist. Gefeiert wird in den Familien sicherlich der erste Tag, auch der achte ist etwas wichtiger.

Die meisten säkularen Juden halten die Chanukka-Bräuche ein.

Feiern auch säkulare Juden Chanukka?

Bollag: Das Fest wird überall gefeiert, egal, wo man sich jüdisch situiert. Das finde ich schön. Die meisten säkularen Juden sind Kulturjuden, welche die Chanukka-Bräuche in der Regel einhalten. Sie feiern auch mit Kerzen, die angezündet werden. Sie kennen vielleicht nicht mehr alle Liedstrophen oder brauchen eine Transkription. Die Unterschiede zeigen sich dort, wo Menschen noch in die Synagoge gehen.

Michel Bollag ist Fachreferent Judentum und Co-Leiter des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog (früher: Zürcher Lehrhaus)

 

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