«Hätten Zwingli und Luther sich geeinigt, wäre die Geschichte anders»

Zürich, 9.12.16 (kath.ch) Margot Kässmann, ehemalige Bischöfin der Evangelischen Kirche Deutschlands und Botschafterin für das Reformationsjubiläum, predigt am Sonntag im Grossmünster in Zürich. Im Interview mit der Katholischen Kirche im Kanton Zürich spricht die ehemalige Bischöfin über die Unterschiede zwischen den  Konfessionen und über Vorbehalte gegenüber Frauen auf der Kanzel.

Kerstin Lenz*

Mache ich etwas falsch, wenn ich Sie mit Alt-Bischöfin anspreche?

Margot Kässmann: Nein, das machen einige Menschen. Viele allerdings mit einem Augenzwinkern und Schmunzeln, weil ich ja noch keine 60 bin. Ich kann das gut hören. Es hat ja auch etwas Respektvolles.

Wofür braucht es denn das Amt eines Bischofs oder einer Bischöfin? Die reformierte Kirche in der Schweiz kennt das Amt ja nicht…

Kässmann: In Ungarn gibt es auch reformierte Bischöfe. Martin Luther allerdings hat gefunden, seine Kirche sei durch ein weltliches Oberhaupt besser geschützt. In Deutschland gab es lutherische Bischöfe erst nach dem Rücktritt des Kaisers, also seit den 1920er Jahren. Mit der Trennung von Staat und Kirche hat die Kirche ein geistliches Oberhaupt, unabhängig vom Staat.

In der reformierten Tradition auch in der Schweiz zählt die kollektive Leitung mehr. Es wurde das Augenmerk eher auf die Gemeinde gelegt. Ihre Autonomie war wichtiger. Aber ich weiss, dass auch überlegt wird, ob gerade in einer Medienwelt ein starkes Leitungsamt nicht hilfreich wäre.

Können Sie einer Nicht-Theologin erklären, wo die Unterschiede zwischen lutherischer und zwinglianischer Kirche liegen?

Kässmann: 1529 trafen sich Zwingli und Luther in Marburg. Sie konnten sich damals nicht einigen, wie Christus im Abendmahl präsent ist. Luther sah «in, mit und unter» Brot und Wein Jesus Christus präsent, für Zwingli war beides nur ein Symbol, ein Zeichen. Hätten die beiden sich geeinigt, wäre die Reformationsgeschichte eine ganz andere gewesen. Den Reformierten hier, das habe ich bei einem Gottesdienst in Basel erlebt, kommt die lutherische Liturgie oft ein wenig katholisch vor. Wir singen die Liturgie, für uns spielt der Altar eine wichtige Rolle, für das Luthertum sind Bilder wichtig. Der reformierte Gottesdienst ist da wesentlich konzentrierter auf das verkündigte Wort.

Sie sind am Sonntag zu Gast im Grossmünster bei Pfarrer Christoph Sigrist. Sind diese Unterschiede Thema oder sogar Anlass zu Streit wie bei Zwingli und Luther?

Kässmann: Wir beide stellen unsere je eigene Tradition in den Vordergrund – Christoph Sigrist den reformierten und ich den lutherischen Ansatz. 1973 haben die Kirchen in der Leuenberger Konkordie gesagt: «Wir erkennen uns als Kirchen an und können deswegen das Abendmahl feiern». Das war ein grosser Schritt. Heute können wir die Unterschiede sehen, sie sind interessant, aber sie sind nicht länger trennend.

Worum geht es in Ihrer Predigt vom Sonntag?

Kässmann: Wir liefern wieder eine Dialogpredigt. Es geht darum, was Verheissung bedeutet. Aus einer so kleinen Stadt wie Bethlehem und von einer so normalen Person wie Maria kommt Gott in die Welt. Das ist für mich ein grosses Thema: Gottes Geschichte zeigt sich in den kleinen Leuten – und in den kleinen Städten. Das verbinde ich auch mit Wittenberg: Aus dieser kleinen Stadt kamen grosse theologische Ideen.

Kässmann: Sie treten am Sonntag mit dem schwarzen Talar mit Beffchen auf – wie eine Richterrobe. Mögen Sie das?

Kässmann: Ich ziehe immer den Talar mit Beffchen an. Auf jeder Karikatur in Deutschland werden Pfarrerinnen und Pfarrer mit diesem gezeigt, jeder Mensch erkennt daran einen Pfarrer. Das ist für mich ein gutes Kennzeichen, der schlichte schwarze Talar. Viel evangelische Geistliche tragen inzwischen «clerical collar» oder Stolen, um erkennbarer zu sein oder auch fröhlicher zu wirken. Das entspricht meines Erachtens nicht unserem Amtsverständnis. Pfarrerin und Pfarrer haben keinen Weihestatus. Die Idee des Talars ist ja, dass die Person zurücktritt und das Wort Gottes zählt. Und wenn Leute sagen, schwarz sei so traurig, dann finde ich:  Jede Frau sollte ein kleines Schwarzes im Schrank haben. Das ist sehr festlich. Auch wenn bei der Erfindung nicht an Frauen gedacht wurde: Selbst wenn Du schwanger bist, sieht das unter dem Talar kein Mensch.

Das Reformationsjubiläum begleitet Sie ja schon einige Jahre – als Botschafterin. Die Feierlichkeiten starten 2017, auch hier in Zürich am 5. Januar mit einem Festakt. Welche Zeichen möchte die protestantische Kirche zum Jubiläum setzen?

Kässmann: Vor allem die Internationalität ist wichtig, wir wollen europäisch und weltoffen feiern, nicht deutsch-nationalistisch wie in früheren Zeiten. Und natürlich steht die Ökumene ganz oben. Wir möchten andere Kirchen beteiligen, gemeinsam feiern und uns auch nicht anti-katholisch ausrichten wie bei Reformationsjubiläen der Vergangenheit. Wir sehen heute stärker das Verbindende als das Trennende. Ich finde, diese Annäherung, dass wir den Christen im Anderen sehen, ist wirklich eine Feier wert. Versöhnte Verschiedenheit ist das Stichwort, verbunden mit der Hoffnung, gemeinsam Abendmahl feiern zu können. Das Gemeinsame ist stark – vor allem in der multireligiösen und säkularen Welt.

Sie sprechen die Säkularisierung der Welt an. Immer weniger Menschen sind Mitglieder einer Kirche und bekennen sich dazu, religiös zu sein. Finden Sie das problematisch?

Kässmann: Als Deutsche habe ich erlebt, wie die eher kleine Kirche in der DDR eine riesige Rolle gespielt hat, als Salz der Erde, als Ort der freien Rede, sodass auch politische Veränderungen möglich waren. Eine Minderheit zu sein, heisst nicht, dass man keinen Einfluss hat. Natürlich müssen wir um Erneuerung ringen. Das Christentum ist eine Herausforderung, Anbiedern funktioniert nicht.

Aber alle Menschen müssen sich die Frage stellen: Wo habe ich meine Wurzeln? Woher beziehe ich meine Werte? Sie müssen sich fragen, was ihnen Halt gibt in dieser schnelllebigen Welt. Ob das nicht der Glaube unserer Väter und Mütter ist, den wir brauchen. Christlicher Glaube ist eine Orientierung und vermittelt eine Haltung. Er gibt Antworten auf Gewissensfragen.

 Sie haben auch das gemeinsame Abendmahl erwähnt – ein sehr strittiger Punkt für Katholiken. Es entsteht das Gefühl, dass die katholische Kirche sich mehr der reformierten anpassen solle. Teilen Sie den Eindruck?

Kässmann: Nein, die Verschiedenheit ist sehr kreativ, eine Einheitskirche wäre nicht mein Ziel. Ich denke eher, es gibt auch in der reformierten Kirche eine Sehnsucht nach mehr Spiritualität und Sinnlichkeit im Gottesdienst. Da können wir von der katholischen Kirche lernen – gerade in der Liturgie, ohne gleich zu werden. Auf der anderen Seite finde ich wichtig, dass die reformierte Kirche Frauen und Männer in allen Ämtern zulässt. Davon können andere lernen.

Wenn Frauen mehr beteiligt würden, was würde die katholische Kirche gewinnen?

Kässmann: In der lutherischen Kirche hat sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau verändert, seit das Abendmahl von einem Mann oder einer Frau gefeiert werden kann. Als ich Bischöfin wurde, habe ich selbst überlegt, dass ich mir als Bischof einen älteren Herrn vorstelle und nicht eine Frau mit vier Kindern im Schulaltern. Diese Stereotypen sitzen tief in uns allen und verändern sich nur langsam.

Auch aus der reformierten Kirche kommen Stimmen, dass Ihre Kirche zu weiblich würde, zu sehr geprägt von Frauen, sodass sich Männer nicht mehr wohlfühlen….

Kässmann: Das finde ich lächerlich und sogar fast lustig. Wir können darüber reden, falls es nur noch 20 Prozent männliche Pfarrpersonen geben sollte. Seien wir ehrlich: Alle Kirchen, ob orthodox, katholisch oder reformiert, werden seit Jahrhunderten von den Frauen getragen. Die Mütter geben primär den Glauben an die Kinder weiter. Wenn sich das auch in der Leitungsebene zeigt, ist das nur natürlich.

Auch das Thema «Frauen und Macht» wird häufig diskutiert. Ihr Aufstieg zur lutherischen Bischöfin ging wohl kaum ohne Spannungen vor sich.

Kässmann: Es gab grosse Vorbehalte gegen eine Frau auf der Kanzel. Ich kannte während meines Studiums gar keine weibliche Pfarrerin. Als ich mit Zwillingen schwanger war, wurde mir in der Pfarrei nahegelegt, meine Arbeit niederzulegen. Das war für mich sehr problematisch, so als wollte man mir sagen, ich würde meine Kinder vernachlässigen. Als ich Bischöfin wurde, wurde viel diskutiert, ob das möglich ist mit vier Töchtern. Mein Gegenkandidat war Vater von 5 Söhnen – kein Thema. Da gab es ja eine Frau, die sich um die emotionalen Belange der Kinder kümmert. Ich war oft dünnhäutig, inzwischen ist mein Fell ist aber viel dicker geworden. Auf Kritik unter der Gürtellinie reagiere ich nicht mehr.

Haben es die Frauen heute einfacher als Sie vor 20 Jahren?

Kässmann: Nein auf keinen Fall! Das sehe ich an meinen Töchtern, die alle einen Beruf und zum Teil auch Kinder haben. Der Druck, die Erwartungen, die auf ihnen lasten, sind ungleich höher. Heute soll alles ganz locker vereinbar sein: Kinder, Karriere, Ehe und dann auch noch der liebevoll gebastelte Adventskalender. Diesen Druck hatte ich wirklich nicht.

*Kerstin Lenz ist Kommunikationsbeauftragte der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Das Interview erschien erstmals als Blogbeitrag auf zhkath.ch.

Hinweis: Am Sonntag, 10. Dezember, um 10 Uhr predigt Margot Kässmann mit Pfarrer Christoph Sigrist im Grossmünster.


In den Unterschieden der Kirchen steckt auch eine Kraft

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