«Turkson hat die Rolle des Wirtschaftsführers zu eng gefasst»

Zürich, 9.9.16 (kath.ch) Zu individuell-ethisch findet der Theologe und Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki* den ethischen Ansatz von Kardinal Turkson. Das Handeln eines Wirtschaftsführers sei nicht einfach eine nette Freiwilligkeit, sondern beinhalte eine Verpflichtung. Turkson hatte am 8. September an einem Vortrag in Zürich die Prinzipien für nachhaltiges Wirtschaften dargelegt.

Regula Pfeifer

Was war die wichtigste Aussage in Kardinal Turksons Referat?

Thomas Wallimann: Der Kardinal hat das Dreieck Gott – Mensch – Schöpfung betont. Dieses besagt, dass alle drei Aspekte miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, wird aber seit dem päpstlichen Schreiben «Laudato sì» verstärkt in den Vordergrund gerückt. Es ist eine wichtige Aussage, die sicher auch Vertreter anderer Religionen ähnlich sehen.

Waren Sie mit seinen Ansichten einverstanden?

Wallimann: Ein paar kritische Gedanken sind mir geblieben. Der Ansatz im Handbuch «Zum Unternehmer berufen», das er uns vorstellte, ist zu stark individuell-ethisch ausgerichtet. Da stellt sich die Frage: Wo ist die Rolle des Wirtschaftsführers als Bürger? Wo ist der Staat in diesen Überlegungen? Was heisst das alles für die Kirche im jeweiligen Staat? Das Ganze erinnert doch zu sehr an den «Fürstenspiegel» im Mittelalter.

Was für ein «Fürstenspiegel»?

Wallimann: Das waren im Mittelalter Texte, die den Fürsten zu ethischem Verhalten anhielten. Die Ermahnungen an die Wirtschaftsführer, die Turkson eben formuliert hat, erinnern mich an solche mittelalterlichen Ermahnungen.

Was ist daran nicht gut?

Wallimann: Wenn man die Gewissenserforschung für den Wirtschaftsführer an die Gewissenserforschung eines Fürsten anlehnt, dann habe ich die kritische Frage: Macht die Kirche den gleichen Fehler wie im Mittelalter, dass sie mit den Mächtigen ins Boot steigt und die Hoffnung hat, diese würden die Welt retten? Dabei riskiert sie, Strukturfragen und institutionelle Verflechtungen zu vernachlässigen.

Macht die Kirche den gleichen Fehler wie im Mittelalter, dass sie mit den Mächtigen ins Boot steigt?

Was wäre hier die Strukturfrage?

Wallimann: Die Prinzipien der Soziallehre sind Strukturprinzipien. Da geht es nicht um die Frage: Meine ich es gut als einzelner? So gesehen ist im Referat die Rolle des Wirtschaftsführers zu eng gefasst. Seine mögliche Einflussnahme auf Strukturen ist zu kurz gekommen. Und weil diese ethischen Aufforderungen nur auf Freiwilligkeit setzen, ist man nicht weit von der Gesinnungsethik entfernt. Nach dem Motto: Ich habe es gut gemeint, aber…

…aber es ist anders rausgekommen.

Wallimann: Ja. Gut gemeint reicht nämlich nicht. Gerechtigkeit ist auch eine Frage der Strukturen und Systeme. Darum geht es hier beispielsweise auch um die Rolle des Staates. Die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für die Arbeitswelt beispielsweise sind fundamental für die Gerechtigkeit in der Arbeits- und Wirtschaftswelt. Länder, die sie ratifiziert haben, müssen die Konventionen umsetzen – sie werden Gesetz. Das heisst, ein Wirtschaftsführer, der die Botschaft der Soziallehre ernst nimmt und sie in den ILO Konventionen wiedererkennt, muss auch dahin wirken, dass diese Gesetze in seinem Land beziehungsweise dort, wo sein Unternehmen tätig ist, umgesetzt werden – sofern er sich als katholischer Wirtschafsführer versteht.

Dann müsste der Wirtschaftsführer auch politisch aktiv werden…

Wallimann: Klar, denn sein ethisches Handeln ist nicht einfach nette Freiwilligkeit. Es beinhaltet auch die Verpflichtung, je nach Macht und Einfluss, die er hat, in dem Land, in dem er tätig ist, die Gesetze entsprechend diesen Vorgaben mitzugestalten. Das ist wichtig, weil man weiss, dass die Wirtschaftsführer in vielen Ländern oft mehr Macht haben als ganze Bevölkerungsgruppen – oder manchmal mächtiger sind als die Regierungen.

Das ethische Handeln des Wirtschaftsführers ist nicht einfach nette Freiwilligkeit.

Gibt es weitere kritische Punkte im Referat?

Wallimann: Vorher hat mir jemand gesagt: Wieso kamen da weder die Bibel noch Jesus vor? Ich finde: Man muss aufpassen. Mit der Bibel kann man so ziemlich alles machen. Darum ist es wichtig, wenn man die Bibel zitiert, vorher zu klären, weshalb man dies tut, weshalb gerade da und mit welcher Absicht und weshalb gerade diese Bibelstelle. Die Bibel ist kein Rezeptbuch für heutige Probleme, sondern eine Sammlung von Geschichten, wie Menschen von Gott, Vertrauen und ihrem Glauben erzählen und wir uns darin wiedererkennen können. In diesem Sinne ist auch die Frage «Was würde Jesus tun» vielleicht interessant, aber letztlich für unsere Situation nicht hilfreich – und häufig irreführend, weil sie eher unsere eigenen Interessen «fromm verdeckt» als wirklich ethisch ist.

Einige zentrale Elemente im Sinne «grosser Linien» aus der Bibel kamen aber in den ethischen Aufforderungen Turksons vor: der Einsatz für die Armen, das Ernstnehmen aller Menschen, die Gastfreundschaft und die Beziehungspflege. Gerade Letzteres hat er erwähnt und bildet auch einen Kern in «Laudato si».

Weshalb gab es keine Bibelzitate?

Wallimann: Die Tradition der Katholischen Soziallehre weiss schon lange: Wenn sie ihre Botschaft für gerechte Strukturen und Verhältnisse in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft in erster Linie mit Bibelzitaten und religiöser Sprache untermauert, dann tönt das sehr schnell nach Glaubensinhalt. Dies kann abschrecken. Wer nicht katholisch ist, sagt vielleicht schnell: Das ist schön, dass ihr das macht. Aber ich gehöre nicht zu euch. Wer mit der Menschenwürde und der vorrangigen Option für die Armen argumentiert, nimmt Kernanliegen des christlichen Glaubens auf und macht sie der Vernunft zugänglich. Dann lässt sich über diese Anliegen mit allen vernünftigen Menschen diskutieren.

Die Tradition der Soziallehre war immer vernunftorientiert. Sie setzt auf Prinzipien wie Personalität, Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität konnte dadurch auch mit Leuten ins Gespräch kommen, die nicht aus religiösen Gründen eine gerechte und menschenfreundliche Welt wollen. So können Menschen mit oder ohne explizit christlicher Motivation gemeinsam für eine gerechtere und friedvollere Welt kämpfen.

 

* Thomas Wallimann-Sasaki leitet seit 1999 das Sozialinstitut der Katholischen Arbeitnehmer- und Arbeiterinnen-Bewegung KAB in Zürich. Er ist Präsident ad interim der bischöflichen Kommission «Justitia et Pax» und Dozent für Wirtschafts- und Technik-Ethik an Fachhochschulen.

Kardinal Turkson appelliert in Zürich an Wirtschaftsführer

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