«Es ist eine falsche Behauptung, Europa verliere seine Identität!»

Bern, 4.4.16 (kath.ch) Nach fünf Jahren Krieg in Syrien zieht Caritas Schweiz eine düstere Zwischenbilanz: Während sich die humanitäre Lage vor Ort massiv verschlechtert habe, reagiere die Schweiz knauserig und realitätsfremd. Das katholische Hilfswerk fordert eine Aufstockung der Syrienhilfe und Entschiedenheit in der Aufnahme von Flüchtlingen, wie Direktor Hugo Fasel am 4. April an einem Mediengespräch in Bern sagte.

Sylvia Stam

Für die Omnipräsenz des Flüchtlingsthemas auch in der Schweiz sieht Fasel zwei Ursachen: Einerseits das Ausmass der Flüchtlingskrise und ihrer medial präsenten Tragödien, andererseits aber auch die Art und Weise, wie hierzulande darüber diskutiert wird. Das sei nichts anderes als «gezielte politische Bewirtschaftung und populistische Angstmache», so Fasel.

Er vermisst in dieser Diskussion eine Analyse der Ursachen: Der Alltag in Syrien sei von Bombardierungen geprägt. Vergewaltigungen, Entführungen, Organhandel seien an der Tagesordnung. Das Argument, die Schweiz könne nicht die ganze Welt aufnehmen, hält er angesichts solcher Tatsachen für «dummes Geschwätz», denn: «Wenn es irgendwie geht, bleiben diese Leute in Syrien!», so der Caritas-Direktor energisch. Flucht sei nur der letzte Ausweg.

0,2 Prozent der europäischen Bevölkerung

Auch wenn es schwierig sei, exakte Zahlen zu erheben, so seien von den einst 23 Millionen Einwohnern Syriens noch immer etwa 19 Millionen im eigenen Land, wenn auch ein Drittel davon als Vertriebene.  2,7 Millionen seien in der Türkei, 1,1 Millionen im Libanon, 650’000 in Jordanien und 250’000 im Irak. Demgegenüber nimmt sich die von Caritas genannte Zahl von 1,5 Millionen nach Europa geflüchteter Syrer klein aus, das entspricht 0,2 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung. Angesichts solcher Zahlen «ist es falsch zu behaupten, Europa verliere seine Identität», so Fasel.

Schutzräume unter Uno-Aufsicht

Was aber ist zu tun? Stabilisierung der Situation vor Ort hält Fasel für eine der dringendsten Aufgaben. Die internationale Gemeinschaft müsse in erster Linie dafür sorgen, dass in Syrien Räume geschaffen werden, die unter dem Schutz der Uno stehen.
Doch auch an die Schweiz stellt Caritas klare Forderungen: Die Syrienhilfe müsse verdoppelt werden auf mindestens 100 Millionen Franken, und zwar nicht auf Kosten der Entwicklungszusammenarbeit, wie der Bund dies vorsieht. Die im Budget 2016 durch das Parlament vorgenommenen Kürzungen hält Caritas für ebenso realitätsfremd wie die Kürzungsbestrebungen für den Rahmenkredit 2017 bis 2020. Das Hilfswerk verlangt eine Aufstockung dieses Rahmenkredits auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts, wie es auch die Uno schon lange fordere. Der Nationalrat wird im Juni über diesen Kredit entscheiden.

Vom Dogma der Nicht-Integration abrücken

Doch damit nicht genug: Die Schweiz müsse mit Entschiedenheit die Aufnahme von Flüchtlingen sicherstellen, statt sie durch eine Verstärkung des Grenzwachtkorps mit Hilfe der Armee abzuwehren. «Es darf nicht sein, dass junge WK-Soldaten mit ihrem Gewehr an der Grenze auf Flüchtlinge schiessen», so Fasel. Um eine menschenwürdige Versorgung der Flüchtlinge zu gewährleisten, soll der Bundesrat Vorschläge unterbreiten, wie Kantone und Gemeinden in der Betreuung finanziell unterstützt werden könnten. Des Weiteren soll der Bund Vorschläge machen, wie Flüchtlinge möglichst rasch in bestehende gesellschaftliche Institutionen wie Vereine, Berufsschulen und Gymnasien integriert werden können. Entscheidend hierfür ist laut Fasel, dass die Schweiz «vom Dogma der Nicht-Integration von Asylsuchenden abrückt». Konkret fordert er die Finanzierung von Intensivsprachkursen und das Recht auf Arbeit für Asylsuchende.

Um der Angstmache in der Bevölkerung entgegenzuwirken, erwartet Fasel vom Bund ausserdem eine Aufklärungskampagne. Hier müsste gezeigt werden, «dass die Identität unseres Landes mit 8,2 Millionen Einwohnern durch Flüchtlinge nicht gefährdet ist!» (sys)

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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