Islamische Theologin: «Mit Bomben kann man keine Demokratie erreichen»

Zürich, 1.4.16 (kath.ch) Die islamische Theologin Hamideh Mohagegi stammt aus dem Iran und lebt in Deutschland. Im Interview mit kath.ch erzählt sie vom Potenzial der jungen Menschen, die im Iran leben. Sie hofft, dass sich die iranische Gesellschaft von der Basis aus in Richtung Demokratie verändern kann.

Elisabeth Aeberli

Sie leben seit 1977 in Deutschland. Wie kam es dazu?

Hamideh Mohagegi: Nach dem Studium in Teheran heiratete ich. Mein Mann lebte damals bereits in Hannover.

Im Iran habe ich das Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen. In Deutschland studierte ich Religions- und Rechtswissenschaften. Da es noch keinen universitären Lehrstuhl für islamische Theologie gab, studierte ich sechs Jahre im Privatunterricht islamische Theologie.

Im Iran erlebten Sie noch die Zeiten der Revolution, wie haben Sie die Entwicklungen erlebt?

Mohagegi: Ich war in der Zeit der Revolution Studentin, und wie andere junge Menschen hatte ich Ideale und Hoffnungen, dass sich etwas verändert. Die Zeit des Schahs war diktatorisch, auch wenn man das vom Ausland her nicht so wahrgenommen hat. Wir hatten für Freiheiten gekämpft. Wir hatten die Hoffnung, dass auch ein religiös-politisches System demokratisch sein kann. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

1978 wurde der Schah gestürzt. Ich lebte damals schon in Deutschland und habe dies nicht so hautnah erlebt. Ich bin auch heute noch regelmässig im Iran. Mit der Uni Paderborn begleitete ich ein dreijähriges theologisches Austausch-Projekt.

Wie sehen Sie die Situation heute, etwa das letztes Jahr beschlossene Iran-Abkommen?

Mohagegi: Dieses Abkommen ist hoffnungsvoll. Der Iran ist sicher kein Musterland. Zu Konflikten und Spannungen führte unter anderem auch der Umstand, dass die Iraner ihre Politik selbst bestimmen wollen.

Der Iran ist ein wunderschönes Land, es hat ein Potential von sehr vielen willigen jungen Menschen, die gefördert werden müssen. Da muss man ihnen sagen, dass flüchten keine Perspektive ist.

Wie erleben Sie das Leben zwischen den Kulturen?

Mohagegi: Mein Lebensweg hat mich nun hierhergeführt. Ich bin nicht geflohen, sondern habe hier meine Familie. Die Töchter sind mit deutschen Männern verheiratet und werden in Deutschland bleiben. Und da, wo meine Kinder sind, da bleibe auch ich. Ich bin oft im Iran und bin dem Land sehr verbunden.

Ich bin immer dankbar, dass ich in beiden Kulturen lebe, ich stehe nicht im Konflikt zwischen diesen beiden Welten. Ich habe das Gefühl, dass ich zwei Heimatländer habe, und bin dankbar für dieses Privileg. Dankbar, dass ich in einer säkularen Welt leben darf. Ich sehe darin eine Chance, dass Menschen gemäss ihrer eigenen Überzeugung leben können. Die religiös-politischen Systeme im Iran haben gezeigt, dass sie nicht so offen sind. Ich hatte dies gehofft, doch die Realität hat mich etwas anderes gelehrt.

Haben Sie die Hoffnung, dass sich diesbezüglich im Iran etwas ändert?

Mohagegi: Jede Veränderung muss an der Basis geschehen. Wir müssen einsehen, dass wir mit Bomben keine  Demokratie und keine Menschenrechte herbeiführen können. Jede Gesellschaft muss den eigenen Weg finden.

Wie erleben Sie die Flüchtlingspolitik in Deutschland, konkret das Engagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Mohagegi: Ich finde, Angela Merkel schlägt sich gut durch. Es ist ihre Herzenssache, den Menschen in Not zu helfen. Sie hat wohl nicht damit gerechnet, dass es so viele Menschen in Not gibt. Deutschland ist ein reiches Land, es müsste möglich sein, viele Menschen aufzunehmen. Aber es ist klar, dass dies eine Mammutaufgabe ist und dass Teile der Bevölkerung dagegen rebellieren.

Angela Merkel versucht, mit manchen Äusserungen die Ängste zu kanalisieren. Als sie bei einer Begegnung von Teilnehmenden gefragt wurde, ob die Muslime die abendländisch christlich-jüdische Tradition nicht in Gefahr brächten, antwortete sie mit einer Gegenfrage: ‹Was tun Sie für Ihr Christentum?› Wenn man für die eigenen Werte und die eigene Religion einsteht, sie ernst nimmt und danach lebt, muss man keine Angst vor anderen Religionen haben.

Was sagen Sie zu den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln?

Mohagegi: Da geht es um soziologische und um politische Themen. Das Ereignis wurde aber stark polarisiert und mit dem Thema «Flüchtlinge» und «muslimische Männer» in Verbindung gebracht. Es wurde so dargestellt, als ob es sexuelle Übergriffe vorher nie gegeben habe. Es ist ganz schlimm, was da passiert ist. Schlimm ist auch, dass die Ereignisse sofort in Zusammenhang mit den Flüchtlingen gebracht wurden. Die ersten Nachrichten, die uns erreichen, bleiben meist hängen, auch wenn sie nachher revidiert und korrigiert werden. Es wurde später in den Medien gesagt, dass es sich um nordafrikanische Männer gehandelt habe, die schon länger in Deutschland lebten. Die ersten Eindrücke, dass mit den Flüchtlingen frauenverachtende Kulturen nach Deutschland kommen, bleiben jedoch weiterhin bestehen.

Ich kann die Ängste verstehen, und trotzdem finde ich, dass man sachlich und nicht emotional diskutieren sollte. In der Angstmache ist die sachliche Auseinandersetzung nicht möglich. Man hat Ängste, ohne zu wissen, wovor. Eine Studie in Deutschland hat ergeben, dass Pegida in den östlichen Bundesländern am stärksten ist, obwohl es dort kaum Muslime gibt und die Menschen auch nicht wissen, was der Islam ist. Aber sie haben Angst davor.

Sie engagieren sich im interreligiösen Dialog. Bietet dieser die Möglichkeit, über solche Ängste zu sprechen?

Mohagegi: Ja, gerade dem Thema Gewalt und Religion müssen wir uns auf innerreligiöser und  interreligiöser Ebene auseinandersetzen. Es hat im Koran durchaus Stellen, die zu Gewalt aufrufen, denen müssen wir uns stellen, sie historisch verorten und exegetisch deuten. Ebenso der Tatsache, dass wir irrationale Ängste nur in Begegnungen abbauen können. Es gibt zum Beispiel Schulen, die in ihren Turnhallen Projekte mit Flüchtlingen organisieren und dann feststellen, dass es nicht einfach kriminelle Muslime sind, die nach Deutschland kommen.

Eine Begegnung, die ich vor einiger Zeit hatte, gibt mir noch immer zu denken: An einer Veranstaltung, an der wiederum anstelle des Dialoges die Ängste im Vordergrund standen, stand ein junger Flüchtling aus Afghanistan auf und fragte, warum die Stimmung so gegen Flüchtlinge sei. ‹Gibt es in Deutschland keine schlechten Menschen?›, fragte er. Es hat mich sehr berührt, als er sagte: ‹Ich bin 25 Jahre alt, und ich bin einfach müde. Ich musste unter den Taliban leben, im Krieg leben, und jetzt gebe ich alles auf und komme in eine unsichere Zukunft. Ich weiss auch nicht, worauf ich gehofft habe, einfach darauf, dass es besser wird. Jetzt muss ich hier in der Angst leben, dass meine Asylunterkunft angezündet wird, und noch schlimmer ist, dass ich Angst davor habe, als potentieller Verbrecher angesehen zu werden.› In den Begegnungen über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg liegt eine Chance. Nehmen wir diese gemeinsam wahr. (ea)

Hamideh Mohagegi ist Dozentin am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (vormals Zürcher Lehrhaus). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn. An ihrem Wohnort Hannover ist sie Sprecherin des Rates der Religionen und im Haus der Religionen engagiert.

 

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