Neue Ethikkommissions-Chefin: «Ich bin keine Kulturpessimistin»

Zürich, 16.2.16 (kath.ch) Die Zürcher Privatrechtsprofessorin Andrea Büchler freut sich auf kontroverse und intensive Auseinandersetzungen in der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin (NEK). Seit Anfang Jahr präsidiert die 47-jährige das Gremium, dem Fachleute unterschiedlichster Disziplinen angehören. Sie sehe die Pluralität als Chance und wolle ihr sehr viel Raum geben innerhalb der Kommission, sagt Büchler gegenüber kath.ch. Fortschritte im Bereich der Biomedizin oder der Gentechnologie lösen bei ihr keine naive Begeisterung aus. Sie sei aber auch keine «Kulturpessimistin».

Barbara Ludwig

Biomedizin und Gentechnologie haben in den letzten Jahrzehnten einen Erfolg nach dem andern gefeiert. Mit Gesetzen, die diese Bereiche regeln, sei die Schweiz unterdessen relativ gut ausgestattet, sagt die Juristin. «Was es jetzt viel dringender braucht, ist die öffentliche Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen, die die rasanten technischen Entwicklungen aufwerfen».

Büchler beobachtet eine grosse Verunsicherung in der Gesellschaft. Das sei auch nicht verwunderlich. Aber ein Indiz dafür, dass die Gesellschaft eine Wertediskussion führen und sich über die Grundpfeiler ihres Zusammenlebens neu verständigen sollte. Zu einer solchen Diskussion und Vergewisserung von Grundsätzen könne auch die Nationale Ethikkommission für Humanmedizin (NEK) beitragen, sagt Büchler, die der Kommission seit Anfang Jahr vorsteht.

Dass sie als Juristin sich in dem Gremium wiederfinde, sei gar nichts Besonderes. Zum einen sei die Kommission per Definition interdisziplinär. «Zum andern ist auch die Ethik als Diskurs immer interdisziplinär.» In der NEK seien viele unterschiedliche Disziplinen, Haltungen und Zugänge zu Themen vertreten; das mache auch den Reichtum einer solchen Kommission aus.

«Ich will der Pluralität viel Raum geben»

«Ich sehe die Vielfalt von Disziplinen, Zugängen und Haltungen als Chance und will dieser Pluralität auch sehr viel Raum geben», sagt Büchler über ihre Rolle als NEK-Präsidentin. «Ich freue mich auf kontroverse, lebendige und intensive Auseinandersetzungen. Diese Gespräche will ich gerne moderieren.» Aus Büchlers Sicht ist ein ethischer Diskurs nie abgeschlossen. «Es geht darum, sich immer wieder befragen zu lassen und sich selbst zu befragen.» Dazu gehöre, eigene Positionen zu überdenken und allenfalls zu widerrufen. Hingegen seien die Kategorien «liberal» oder «konservativ» kaum geeignet, die Komplexität der Fragestellungen und Positionsbezüge zu beschreiben, findet die Rechtswissenschaftlerin.

Wenn technische Fortschritte neue Möglichkeiten eröffnen, löse das bei ihr keine naive Begeisterung aus. «Diese Forschungsentwicklungen sind eng verwoben mit wirtschaftlichen Interessen. Das macht mich immer ein bisschen skeptisch. Aber ich bin auch keine Kulturpessimistin.» Menschen hätten sich «der neuen Technologien bemächtigt, um grundlegende Bedürfnisse zu verwirklichen», sagt die Juristin und verweist auf die In-vitro-Fertilisation, die bei ihrer Einführung viele Ängste ausgelöst habe und jetzt problemlos angewendet werde.

Genmanipulation am Embryo: «Rote Linie steht in der Schweiz nicht zur Debatte»

Auf den jüngsten Entscheid Grossbritanniens angesprochen, die Forschung an genmanipulierten Embryonen zuzulassen, sagt die NEK-Präsidentin. «Unsere Verfassung kennt viele rote Linien. Unter anderem in diesem Bereich: Eingriffe in die Keimbahn des Embryos sind verboten. Ich glaube, diese rote Linie steht in der Schweiz nicht zur Debatte.» Aber natürlich seien wir nicht alleine auf der Welt. Wenn solche Entwicklungen im Ausland stattfinden, gelte es, die Diskussion in der Schweiz zu intensivieren: «Weshalb haben wir in unserer Verfassung diese rote Linie? Was schützt sie? Was steht für den Einzelnen und für die Gesellschaft auf dem Spiel?»

Es sei richtig, wenn ein Land eigene Grenzen setzt, findet Büchler. In gewissen Bereichen wäre es darüber hinaus allerdings auch sinnvoll, internationale Standards auszuhandeln. Zum Beispiel bei der Leihmutterschaft, einem Thema, mit dem sich die Juristin seit längerem intensiv beschäftigt. Je nach Land gibt es hier unterschiedliche rechtliche Zugänge, was zum Phänomen des «Fortpflanzungstourismus» führt. «Internationale Standards sind hier der einzige Weg, um wirksam Missbräuche zu verhindern», ist sie überzeugt.

«Als nationale Ethikkommission sind wir einem säkularen Diskurs verpflichtet»

Religiöse Prägungen spielen eine wichtige Rolle bei Familienbildern und Vorstellungen davon, was menschliches Leben darstellt. Welchen Stellenwert haben sie für Büchler? Es sei unverkennbar, dass diese Haltungen im ethischen Diskurs eine wichtige Rolle spielten, sagt die NEK-Präsidentin. «Aber als nationale Ethikkommission sind wir einem säkularen Diskurs verpflichtet. Insbesondere wenn es darum geht, biomedizinischen Entwicklungen mit Gesetzen zu begegnen, kann man in einem liberalen Staat nicht eine bestimmte Haltung allen aufzwingen.»

Geht es um die Familie und ihre Formen, dürften Büchlers Ansichten in traditionell-religiösen Kreisen auf wenig Gegenliebe stossen. Die Juristin geht von einer real existierenden Vielfalt aus. «Wir haben eine Pluralität von Familienformen in dieser Gesellschaft. Das ist eine Beobachtung, keine Wertung», stellt sie fest. Und sie plädiert dezidiert dafür, diese Vielfalt zu anerkennen. Pluralität sieht sie auch in diesem Bereich als Chance. Natürlich habe auch ein traditionelles Familienverständnis Platz in dieser Vielfalt. «Aber kann man dieses zur allgemeingültigen Norm erklären? Wie auch immer man zu dieser Frage steht: Tatsache ist, dass diese Norm gar nicht mehr gilt.» (bal)

Neue Ethikkommissions-Chefin: Katholische Fachleute sind unbesorgt

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