Gedanken zum 1. Januar 2016: Mit offenen Armen

Gedanken zum 1. Januar 2016 – Neujahr (Lk 2,16–21)

Mit offenen Armen

Von Jacqueline Keune*

Meine erste «eigene» Wohnung, eine WG in einem Altbau an der Neustadtstrasse, hat 250 Franken gekostet, die wir jeden Monat der alten Besitzerin vorbeibringen mussten. In der Wohnung gab es kein Bad und kein Heisswasser, sodass wir immer welches kochen mussten, damit wir Geschirr spülen oder Haare waschen konnten – immer zu zweit, über den alten Schüttstein der Küche gebeugt. Zwei Mal die Woche gings ins Hallenbad beim Steghof, wo es im ersten Stock Badewannen und Duschen gab für jene, die zuhause noch keine eigene hatten. Im Winter war es in der Wohnung oft so kalt – es gab nur zwei kleine Holzöfen, dass wir in Mänteln frühstückten und die Milch zwischen Fenster und Vorfenster gefror. Aber ich konnte mir auf der ganzen Welt nichts Schöneres vorstellen als «meine eigene» Wohnung. Alles fühlte sich aufregend und neu an, obwohl es uralt war. Und alles roch nach Anfang, nach noch ungelebtem Leben und unerhörten Möglichkeiten.

Viele Anfänge sind gefolgt, prosaische und ganz zauberhafte, eröffnet durch den Kuss im strömenden Regen, durch den Briefwechsel, den Umzug, den Kauf der Fahrkarte oder der Getreidemühle, durch die gewagte Bewerbung oder auch einfach durch das Umlegen eines Kalenderblatts um Mitternacht. 53 Mal habe ich neues Jahrland betreten und als erstes die Geburts- und Todestage der Lieben und die Ferien in den neuen Kalender eingetragen und das Gelände vorgewärmt. Der eine und andere Anfang verlief im Sand der Enttäuschung, und an den einen und anderen kann ich nur mit Schmerz zurückdenken. Aber viele der Anfänge haben gehalten und werden weiter halten, was sie einmal versprochen haben.

«So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.» Und selber bin ich auch hingeeilt und habe das Kind geschaut – das Heil und die Hoffnung, den Frieden und das Recht, die Liebe. Und habe das ganz Neue gespürt, das mit dem Kind angebrochen ist und auch meine ganze Existenz erfassen will. So versuche ich denn wieder, die Verheissung nicht aus den Ohren und den Stern nicht aus den Augen zu verlieren, mich nicht nur an Pläne, sondern auch an Wunder zu halten, und dem neuen Jahr mit weit offenen Armen entgegen zu gehen. Wer weiss, vielleicht … (jk)

*Jacqueline Keune, 52, ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

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