Franz Zemp: Gassenarbeit ist eine kirchliche Aufgabe

Luzern, 13.11.15 (kath.ch) Seit August ist Franz Zemp (50) neuer Luzerner Gassenseelsorger. Zemp ist der Nachfolger von Sepp Riedener, dem Gründers und Pionier der kirchlichen Gassenarbeit, die heute ein professionelles Sozialunternehmen geworden ist. Ein Bilanzgespräch nach den ersten 100 Tagen im Amt.

Remo Wiegand

Franz Zemp, wie gross waren die Fusstapfen, die Ihnen Ihr Vorgänger Sepp Riedener hinterliess?

Franz Zemp: Sepp Riedener und ich teilen das gleiche Feuer für eine diakonische Kirche. (Eine Gassenküche-Klientin ruft in diesem Moment ins Gespräch hinein: «Sali Franz! Oder Sepp…?» Wir lachen. «Es ist mir recht, wenn Du mir Franz sagst», antwortet Zemp.) Aber ich hatte schon Respekt vor Riedeners Fussstapfen. Heute kann ich sagen, dass ich sie in der Arbeit vor Ort kaum spüre. Am ehesten nehme ich sie aussen wahr. Kürzlich war ich zum Beispiel bei einer Schulklasse, in der die Lehrerin oft auf Sepp Riedener Bezug nahm. Völlig verständlich, nur vielleicht für jene Schüler nicht, die noch gar nie von ihm gehört hatten.

Wie sieht Ihre erste Bilanz nach 100 Tagen im Amt aus?

Zemp: (überlegt) Sicher kennen mittlerweile viele den neuen Pfarrer – so werde ich zumindest genannt – anderen stelle ich mich noch vor. Ich bin am Lernen, im Moment lerne ich vor allem, flexibler zu werden.

Inwiefern?

Zemp: Die Gassenküche hat ja etwas sehr Unruhiges, Hektisches. Die Leute müssen sich rasch noch Haschisch besorgen oder sie konsumieren oben in der Kontakt- und Anlaufstelle Heroin oder Kokain. Es ist viel Stress zu spüren. Hier Inseln der Ruhe und einen verbindlichen Kontakt herzustellen, das ist herausfordernd, da gibt es nichts zu beschönigen. Oder nehmen wir die Trauerfeiern für verstorbene Gassenküche-Klienten, die wir hier nach Todesfällen jeweils durchführen. Ich würde sagen, ich habe einen grossen Erfahrungsschatz mit Abdankungen, auch im kleinen Kreis. Hier aber ist es ein stetes Kommen und Gehen, es gibt Menschen, die halten es nicht aus, zwanzig Minuten still einem Verstorbenen zu gedenken. Es ist einfach keine geordnete Welt hier, auch liturgisch nicht.

Gibt es bereits Dinge, die Sie in der Gassenküche verändern wollen?

Zemp: Ich kann mir vorstellen, das Rituelle der Abschiedszeremonien noch zu verstärken, damit die Menschen auf eine gute Art Abschied nehmen können. Dann merke ich, dass es viele sehr intelligente Menschen hier gibt, für die vielleicht einmal ein kleiner Club interessant sein Thema könnte, wo sie über Gott und die Welt diskutieren könnten. Ich möchte allgemein versuchen, die Menschen noch mehr bei ihren Ressourcen abzuholen. Das alles soll dem Gesamtzweck der kirchlichen Gassenarbeit dienen: Eine Vermenschlichung einer brutalen, unmenschlichen Situation. Entscheidend dabei bleibt, die Würde jedes Menschen im Auge zu behalten. Ich frage immer wieder ‘mal nach, wie es jemandem grad geht. Viele Gassenküche-Klienten reagieren dann ganz erstaunt, dass sie überhaupt wahrgenommen werden. Das beruhigt oft auch für einen Moment.

Heute ist die Gassenküche Teil eines professionellen Sozialunternehmens. Inwiefern entspricht das noch dem Gründergeist Sepp Riedeners, der mit dem Rucksack zu den Süchtigen auf die Gasse ging?

Zemp: Wir sind tatsächlich zu einem mittelgrossen, sozialen Unternehmen mit rund 40 Mitarbeitern und einem Budget von 4,3 Millionen Franken angewachsen. Doch wir haben weiter den Anspruch, eine kirchliche Institution zu sein. Die Kirche unterstützt einerseits die professionelle Arbeit, die wir hier leisten, andererseits gibt es jemanden wie mich, der die Kirchlichkeit auch personell repräsentiert, inklusive einem Seelsorgeangebot, aber auch als sichtbares Gesicht der Institution.

Im August hat die kirchliche Gassenarbeit ihr 30-jähriges Bestehen gefeiert. Die Festivitäten waren üppig, einen Jubiläumsgottesdienst aber gab es keinen. Warum?

Zemp: Bei der Vorbereitung war ich selber ja noch nicht dabei. Aber ich habe das auch bemerkt, und die Frage haben sich auch andere gestellt. Der Festakt fand in den Räumen der Lukaskirche statt, wieso kein Gottesdienst gefeiert wurde, weiss ich tatsächlich nicht. Ich persönlich könnte mir für ein nächstes Jubiläum einen Gottesdienst gut vorstellen. Ich finde es jedenfalls wichtig, dass wir unsere Kirchlichkeit nach aussen klar vertreten.

Sie sind auch noch Gemeindeleiter der umtriebigen Luzerner Maihof-Pfarrei. Haben Sie noch nie bereut, die anspruchsvolle Stelle in der Gassenarbeit auch noch angetreten zu haben?

Zemp: Nein, nie. Was mich motiviert hat, hier zu arbeiten, war dieses nackte Leben, das Unverblümte und Direkte. Und das finde ich tatsächlich. Es relativiert viele «Sörgeli» aus dem Pfarreialltag. Andererseits gibt es einfach ganz viel Tragisches, wie die Aussichtlosigkeit eines Jugendlichen, der nächstens aus dem Gefängnis kommt und keine Ahnung hat, was er danach machen wird. Ich bin eigentlich eine psychisch eher robuste Person, das braucht es auch in dieser Arbeit. Aber es gilt hier schon viel Tragisches auszuhalten. (rw)

Franz Zemp arbeitet mit einem 30-Prozent-Pensum als Luzerner Gassenseelsorger. Er betreut neben der Gassenküche auch das «Paradiesgässli», ein Ort für drogenabhängige Eltern und deren Kinder. Zemp gestaltet Trauerfeiern, macht Spitalbesuche, leistet Seelsorge und führt Besuchergruppen durch die Gassenküche.

Gassenarbeit Luzern

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