«Wir sehen uns in der christlich-jüdischen Tradition der Barmherzigkeit»

Luzern, 6.9.15 (kath.ch) Trauernde Menschen begleiten, das haben sich die katholischen Theologinnen Antoinette Brem und Barbara Lehner zur Aufgabe gemacht. Sie verstehen sich dabei «ein Stück weit als Hebammen», wie Lehner sagt. «Wir geben den Rahmen für den Trauerprozess, sorgen also dafür, dass ein solcher stattfinden kann.» Dabei kommen teilweise auch fernöstliche Methoden zum Zug. Ihr Wissen haben sie in ihrem zweijährigen Lehrgang in Luzern an bereits rund 100 Personen weitergegeben.

Regula Pfeifer

Sie sind katholische Theologinnen, wie kamen Sie darauf, Trauerbegleitung anzubieten?

Barbara Lehner: Ich habe mit fünf Jahren meinen Vater verloren, das hat mich sehr geprägt. Zudem haben wir beide in der Spital- und der Betagtenseelsorge gearbeitet und gemerkt: Das Thema Trauer ist sehr präsent. Es geht um Neuorientierung nach einem Verlust. Schliesslich kam Karl Mattmüller von der Katholischen Landeskirche Luzern auf uns zu. Er wollte erst ein Trauerseminar-Angebot schaffen und später einen zweijährigen Trauerbegleitungs-Lehrgang für Mitarbeitende in Seelsorge und Diakonie. Der Lehrgang, den wir von Anfang an leiteten, lief ursprünglich als Angebot der Kirche.

Wie gross war das Bedürfnis unter den Seelsorgenden?

Lehner: Vor allem Personen aus nichtkirchlichen Kreisen nutzten unser Angebot, besonders Pflegende und Frauen, die ihre Angehörigen in einer Trauerphase begleitet hatten. Seelsorgende kam hingegen in kleinerer Zahl. Deshalb nahmen wir den Lehrgang später zu uns. So konnten wir selbstständig entscheiden und die Finanzen verwalten. Inzwischen haben wir den siebten Lehrgang abgeschlossen und rund 100 Personen ausgebildet.

Antoinette Brem: Wir haben Pfarrei-Mitarbeitende nach den Gründen für ihr Wegbleiben gefragt. Sie antworteten, sie sähen Potential in der Trauerbegleitung und würden ihr gern einen Teil ihrer Arbeit widmen, doch gebe es keinen Platz dafür im Rahmen ihrer Anstellung.

Machen Sie den Pfarreien seelsorgerliche Konkurrenz mit der Begleitung trauernder Menschen?

Brem: Das war nie beabsichtigt. Unser Angebot ist ergänzend. Es spricht häufig Leute an, die aus der Kirche ausgetreten sind oder sich nicht an die Pfarrei wenden möchten. Ausserdem suchen immer mehr Leute ausserhalb von Pfarreien nach Unterstützung in schwierigen Situationen, gemäss der gesellschaftlichen Entwicklung.

Lehner: Wir weisen vor allem kirchlich verwurzelte Menschen auf die Möglichkeiten in den Pfarreien hin. Umgekehrt vermitteln uns einzelne Pfarreien Interessenten zum Beispiel für die Trauerseminare. Die Menschen sollen Unterstützung erhalten, das ist unser Hauptanliegen.

Brem: Weil wir all die Anfragen nicht selbst bewältigen können, möchten wir andere befähigen, Trauernde zu begleiten. Deshalb bieten wir einen Lehrgang in Trauerbegleitung an, neu auch eine Ausbildung zur Gestaltung von Abschiedsritualen und Bestattungsformen.

Was erwartet die Leute in Ihren Seminaren?

Brem: Wir gestalten das Trauerseminar als strukturierten Prozess, in dem verschiedene Trauerthemen mit inneren Bilderreisen, Symbolen, kreativem Ausdruck und in Ritualen gemeinsam durchlebt werden. Themen sind dabei unter anderem die Klärung der Beziehung mit der verstorbenen Person, weitere Verluste, eigene Ressourcen und das Abschiednehmen. Zudem ermöglichen Austauschrunden und Kurzinputs von uns – etwa über Trauerreaktionen – den Teilnehmenden ein wachsendes Verständnis für sich selbst.

Weshalb wenden Sie fernöstliche Methoden an?

Brem: Trauernde zu trösten gilt in der jüdisch-christlichen Tradition als eines der Werke der Barmherzigkeit. Wir sehen uns in dieser Linie. Das methodische Rüstzeug haben wir unter anderem beim griechisch-deutschen Trauerforscher Jorgos Canacakis erlernt. Wir haben uns zudem im Theologiestudium mit christlicher Mystik befasst und später Berührungspunkte zur Mystik in asiatischen Kulturen entdeckt. Wir sehen darin ein Potential für Leute, die auf der Suche nach Seelennahrung und innerer Orientierung in Lebenssinnkrisen sind. Oft entdecken sie über eine fremde die eigene Spiritualität neu. Die chinesisch-taoistische Bewegungsmeditation Shibashi Qi Gong haben wir von katholischen Ordensfrauen auf den Philippinen erlernt. Sie setzt um, was die heilige Teresa von Avila gesagt hat: «Tu deinem Leib Gutes, damit deine Seele Freude hat, darin zu wohnen.» So sprechen wir in unserer Trauerbegleitung auch die körperliche Ebene an, denn: Trauert die Seele, trauert der Körper mit.

Lehner: Der Mensch trauert ganzheitlich, deshalb muss man ihn ganzheitlich unterstützen, nicht nur rein geistig. In der Trauerbegleitung setzen wir einzelne Körperübungen von Shibashi Qi Gong ein, vorausgesetzt, die Leute sind offen dafür. Beispielsweise eine Stehübung, denn trauernde Menschen haben oft das Gefühl, es ziehe ihnen den Boden unter den Füssen weg.

Wer besucht Ihre Trauerseminare?

Brem: Erwachsene zwischen 25 und 75 Jahren, mehrheitlich Frauen. Darunter befinden sich Menschen, denen der frühe Tod eines Elternteils viele Jahre später zu schaffen macht, Frauen, die ihr Kind während der Schwangerschaft verloren haben und Angehörige von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Aber auch Menschen, die eine zerbrochene Beziehung betrauern oder Mobbing am Arbeitsplatz erfahren haben, finden den Weg in unsere Trauerseminare.

Die Leute sollen frühestens drei Monate nach einem Verlust zu Ihnen kommen, empfehlen Sie. Weshalb?

Brem: Wir führen die Teilnehmenden in den Trauerseminaren durch innere Bilderreisen und Rituale und motivieren sie zum kreativen Ausdruck und zum darüber Reden. Dabei kommen manchmal starke Gefühle auf. Wer vor kurzem einen Verlust erlitten hat, ist oft nicht fähig, sich diesen auszusetzen.

Lehner: Nach drei Monaten realisiert man, dass der geliebte Mensch wirklich gestorben ist. Vorher kann man von ihm innerlich nicht Abschied nehmen. Das Realisieren des Verlustes ist die Voraussetzung, um Abschied nehmen zu können.

Was für Wirkungen stellen Sie fest bei den Seminarteilnehmenden?

Lehner: Das Gesicht klärt sich, häufig kommt die Lebensfreude wieder. Auch Stolz zeigt sich auf alles, was man geschafft hat. Und die Kraft der Gruppe macht sich bemerkbar, oft über die Kurszeit hinaus. Viele gehen sichtbar erleichtert in ihren Alltag zurück. Das hat auch mit dem zu tun, was wir Psychoedukation nennen. Wir erklären jeweils Trauerreaktionen, zum Beispiel dass es normal ist, während der Trauer zeitweise keine Gefühle zu verspüren. Bei einem unerwarteten, plötzlichen Todesfall beispielsweise schützt sich die Seele vor dem Schmerz des Verlustes, man ist wie betäubt. Es ist nach einem solchen Schock durchaus normal, wenn man zunächst nichts spüren kann.

Brem: Unsere Begleitung hilft, wieder Vertrauen ins eigene Empfinden und ins Leben zu fassen. Der Verlust hat die Identität erschüttert. Diese Erschütterung wirkt weiter, wenn die Umgebung nach zwei, drei Wochen kein Verständnis mehr hat für die Trauer.

Lehner: Wir verstehen uns ein Stück weit als Hebammen. Wir geben den Rahmen für den Trauerprozess, sorgen also dafür, dass ein solcher stattfinden kann. Aber wir sagen niemandem, was er oder sie tun soll. So entsteht keine Abhängigkeit von uns. Das Heilsame liegt im Menschen selbst und hat einen eigenen Zeithorizont.

Ihre Begleitung wirkt sich offenbar positiv auf die Psyche der Menschen aus. Sie betonen aber, Sie seien keine Psychotherapeutinnen.

Brem: Ja, Trauerbegleitung ist keine Therapie, denn Trauer ist keine Krankheit, sondern eine uns angeborene Fähigkeit, die uns hilft, mit Abschied und Verlust umzugehen.

Lehner: Unsere Begleitung ist seelsorgerlich und spirituell: Wir unterstützen Menschen in einem Reifeprozess und helfen, neue Quellen zu erschliessen. Und sie ist sozialpädagogisch: Wir besprechen konkrete Fragen, etwa wie sie die ersten Weihnachten alleine gestalten könnten. Stellen wir bei jemandem eine schwere Depression fest, vermitteln wir ihn oder sie an eine Ärztin oder einen Psychotherapeuten.

Brem: Jenen, die bereits eine Therapie machen, empfehlen wir, ihre Teilnahme an einem Trauerseminar abzusprechen, damit sie das Erlebte nachher bei Bedarf wieder in die Therapie einbringen können.

Was lernen Teilnehmenden Ihres Lehrgangs Trauerbegleitung?

Lehner: Sie lernen Trauernde zu begleiten im Einzelsetting und in einer Trauergruppe. Häufig bringen die Absolventinnen und Absolventen die neu erworbenen Fähigkeiten in ihrem angestammten Beruf ein. In der Basisstufe des Lehrgangs steht die Selbsterfahrung im Vordergrund, jene mit der eigenen Trauer, dem eigenen Tod. Sie lernen Trauertheorien kennen, trauerunterstützendes Gesprächsverhalten und Möglichkeiten der Selbstsorge. In der Aufbaustufe liegt der Schwerpunkt auf der Trauer bei Kindern, Jugendlichen und Familien. Auch schwierige Fälle kommen zur Sprache, etwa die Trauer nach einem Suizid oder während der Krankheitsphase eines nahe stehenden Menschen.

Integrieren Sie auch hier kulturfremde Elemente?

Brem: Nicht spezifisch, eher Methoden, die nicht nur übers Gespräch laufen, sondern Menschen mit Leib, Seele und Geist ansprechen. Wir zeigen, was man zum Beispiel mit Gestalten von Ritualen oder mit Singen bewirken kann. Wir beziehen die Natur und ihre Symbolkraft mit ein.

Wie haben Lehrgang-Absolventinnen und -Absolventen ihr Wissen umgesetzt?

Lehner: Einige Seelsorgerinnen haben in ihrer Pfarrei Trauergruppen gegründet. Eine Pflegefachfrau hat in ihrem Betagtenheim ein Trauercafé eingerichtet. Eine andere Frau gestaltet nebenberuflich Trauerfeiern. Eine Lehrerin hat für ihre Schule einen Informationskoffer zum Vorgehen bei einem Todesfall gemacht. Eine Musikerin vermittelt andere Musiker für die Gestaltung von Trauerfeiern.

Haben Sie neue Projekte?

Lehner: Wir sind daran, einen Verein für Familien-Trauerbegleitung zu gründen und suchen dafür Leute, die Familien in Krankheit, Sterben, Tod und Trauer vor Ort begleiten. Vor allem im Fall eines Suizids wäre dies enorm wichtig. Denn oft besteht das Risiko eines Folgesuizids in der eigenen Familie. Zudem möchten wir das Entstehen von Trauergruppen für Kinder und Jugendliche unterstützen. Wir stellen uns eine Geh-hin-Seelsorge vor, wie man dies von der kirchlichen Gassenarbeit her kennt. (rp)

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