Co-Präsidentin Grüne Regula Rytz: Enzyklika ist «fadengerade» Kritik an enthemmter Globalisierung

Bern, 23.6.15 (kath.ch) Die Enzyklika «Laudato si» ist eine «fadengerade» Kritik an der rücksichtslosen globalisierten Profitmaximierungswirtschaft, sagt Regula Rytz, Co-Präsidentin der «Grünen», am Dienstag, 23. Juni, gegenüber kath.ch. Die Dringlichkeit des Textes und die Aufforderung zum Handeln beeindrucken die Nationalrätin. Der Text setze sich für universelle Menschenrechte und globalen Naturschutz ein. Inhaltlich stütze die Enzyklika die Eidgenössische Volksinitiative «Grüne Wirtschaft», die zurzeit im Parlament verhandelt wird. Rytz fordert die Kirchen auf, politisch Stellung zu nehmen, weil der Mensch «nicht nur ein spirituelles Wesen» ist.

Georges Scherrer

An der ökologischen und sozialen Krise ist ein «kleiner Teil der Weltbevölkerung» schuld, nämlich der Westen, schreibt der Papst in seiner neuen Umwelt-Enzyklika. Teilen Sie diese Auffassung?

Regula Rytz: Ja. Denn die Logik, welche heute die globale «Wirtschafsordnung» prägt, ist mit den westlichen Industrienationen zusammen entstanden. Im kapitalistischen Wirtschaftsverständnis sind Arbeit, Boden und Kapital privat genutzte Produktionsfaktoren, die dank technologischem Wandel immer effizienter werden und grössere Renditen abwerfen. Die negativen Folgen und die Grenzen des Wachstums waren lange kein Thema. Erst als die Schäden vor der eigenen Haustür nicht mehr ignoriert werden konnten, wurde gehandelt. So ist zum Beispiel in den 1960-Jahren in der Schweiz der Gewässerschutz entstanden. Vor 130 Jahre wurden das erste Waldgesetz oder das Fabrikgesetz beschlossen. Der Treiber hinter diesen Verbesserungen waren Leute, die nicht mehr zusehen wollten, wie Luft, Wasser, Wälder oder die Gesundheit der Menschen zerstört wurden. Sie haben politische Spielregeln durchgesetzt. Aus diesen Bewegungen sind vor über 30 Jahren auch die – ebenfalls wachstumskritischen – Grünen entstanden.

In den Ländern des Südens und des Ostens haben die Menschen weniger Einflussmöglichkeiten. Nach der oft blutigen Dekolonisierung sind viele ehemalige Kolonialländer zu korrupten, autoritären Staatswesen mutiert. Der Reichtum an Rohstoffen kommt auch heute nicht der lokalen Bevölkerung zugute, sondern wird von globalen Konzernen kontrolliert, die in ihre eigenen Taschen arbeiten. Ein paar Brosamen gehen an die lokalen Eliten im Süden und an die Standortländer im Norden. Was vor Ort an Umweltzerstörung und an sozialer Ausbeutung passiert, interessiert die Konsumenten in den Industrienationen wenig. So wissen viele Menschen in der Schweiz zum Beispiel nicht, dass über 70 Prozent ihrer Umweltlasten im Ausland anfallen und dort Lebensgrundlagen zerstören. Es ist äusserst wichtig, diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Die Enzyklika ist letztlich eine fadengerade Kritik an der rücksichtslosen globalisierten Profitmaximierungswirtschaft und ihren zerstörerischen Folgen.

Was sind die positivsten Punkte, welche Sie der Enzyklika abgewinnen können?

Rytz: Was mich besonders überzeugt, ist die Verbindung von Ökologie und Gerechtigkeit. Genau das ist auch der Ansatz der Grünen. Bereits in der Programmplattform 1991 haben die Grünen die Grenzen des Wachstums und die Übernutzung der natürlichen Ressourcen thematisiert und mit der Bekämpfung der globalen Armut verbunden. Als Wertepartei haben die Grünen auch früh erkannt, «dass die Verschlechterung der Umweltbedingungen und die Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind», wie es in der Enzyklika heisst. Ökologie kann deshalb nie nur auf den Schutz der Umwelt ausgerichtet sein, sondern muss sich auch damit auseinandersetzen, wie Menschen miteinander leben, wie Reichtum und Lebenschancen verteilt sind, wie das Gemeinwohl vermehr werden kann.

Was mich an der Enzyklika auch fasziniert: Die Dringlichkeit des Textes und die Aufforderung zum Handeln, vor allem in der Klimapolitik. Ich sehe es genauso: Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, das Ruder herum zu reissen. Es ist wie bei einem Seerosenteich: Sobald die Hälfte des Teiches bedeckt ist, ist es zu spät.

Kritisiert werden die Industriestaaten. Ist die Umwelt-Enzyklika von Papst Franziskus wirtschaftsfeindlich?

Rytz: Nein. Denn die Wirtschaft funktioniert auch ohne Umweltzerstörung, Profitmaximierung und soziale Ausgrenzung. Das zeigt die Genossenschaftsbewegung, die wieder an Boden gewinnt. Oder wiederentdeckte Formen der «Share-Economy» (die traditionelle Allmendwirtschaft), in der man den Boden oder das Auto nicht selber besitzen muss, sondern mit anderen teilt und damit Kosten spart. Viele Unternehmen zeigen heute im Alltag auf, dass man mit einer klugen Planung der Produktionsprozesse weniger Rohstoffe und Energie verschwendet und weniger Altlasten erzeugt. Innovative Unternehmen praktizieren die Kreislaufwirtschaft und nehmen auch ihre soziale Verantwortung wahr. Damit diese Pioniere nicht durch Dumpingbetriebe an die Wand gespielt werden, muss die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Etwa durch die Internalisierung der Umweltkosten – im Verkehr oder bei der Entsorgung von Atomabfällen, durch Lenkungsabgaben, durch Innovationsförderung oder «rote Linien» für minimale Umweltstandards und soziale Verantwortung. Nur mit den richtigen politischen Rahmenbedingungen haben alle Unternehmen die gleichen Spiesse. Und nur so machen sie ihre Gewinne nicht auf Kosten von Menschen und Natur. Politik und Wirtschaft sind deshalb keine Gegensätze, wie immer wieder behauptet wird, sondern Partner der Nachhaltigkeit.

Papst Franziskus weist auch auf die Korruption hin. Sind diese und die Klientelwirtschaft mitschuldig an der weltweiten ökologischen und sozialen Krise?

Rytz: Die Korruption ist eine Seuche und die Klientelwirtschaft zerstört Innovationsgeist, Leistungsbereitschaft und Qualität. Insofern sind die politischen Eliten in vielen armen Ländern mitschuldig am Leid der lokalen Bevölkerung. Dazu kommen unzählige Bürgerkriege und die brutale Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden. Doch der historische Ursprung der heutigen Weltunordnung liegt in der Verbindung von Nationalismus, Kolonialismus und Aufklärung. Die neuen Freiheiten des Geistes hatten nicht nur die Kultur und die demokratischen Ideen beflügelt und die Menschen emanzipiert, sondern sie dienten in Form von «instrumenteller Vernunft» auch der Unterwerfung und Ausbeutung ganzer Kontinente. Auch unter dem Deckmantel der Religion wurde – und wird immer noch – missioniert und kolonialisiert.

Trotzdem ist die Hauptfrage heute nicht die Suche nach der historischen Schuld, sondern die nach der Veränderungsmacht bei der Durchsetzung von universellen Menschenrechten und globalem Naturschutz. Weil die reichen Länder über mehr Einfluss verfügen als die armen Länder, müssen sie auch eine grössere Verantwortung für die Zukunft des Planeten übernehmen. Zu den einflussreichen Ländern zählen heute auch neue Wirtschaftsgrossmächte wie China oder Indien. Der frühere Nord-Süd-Gegensatz ist heute viel komplexer geworden.

Im Parlament wird die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft» (Grüne Wirtschaft) verhandelt. Erhält die politische Vorlage der Grünen durch die Enzyklika Unterstützung?

Rytz: Inhaltlich auf jeden Fall. Denn die Initiative für eine Grüne Wirtschaft geht von den gleichen Analysen und der gleichen Verantwortungsethik aus wie die Enzyklika. Sie will die globale Übernutzung der Rohstoffe und Ressource stoppen, sie will einen Auswege aus der Verschwendungswirtschaft aufzeigen und den ökologischen Fussabdruck der Schweiz bis 2050 auf eine Erde reduzieren.

Die Initiative gibt der Wirtschaft differenzierte Instrumente für die Schonung der endlichen Ressourcen und die Vermeidung von Altlasten in die Hand. Doch der Widerstand in den konservativen Wirtschaftskreisen ist gross. Daran ändert leider auch die Enzyklika wenig, denn die Kirchen spielen bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen in der Schweiz heute eine schwache Rolle. Trotzdem: Dass sich der Papst so prägnant für die Menschenwürde und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ausspricht, bleibt nicht ohne Einfluss und macht den Menschen Mut. Es ist zu hoffen, dass das engagierte Votum des Papstes auch an der Klimakonferenz in Paris gehört wird.

Sollen sich Ihrer Ansicht nach die Kirchen aus den Umwelt-Debatten heraus halten?

Rytz: Nein. Die Umwelt ist Teil der Schöpfungsgeschichte und damit auch ein Thema der Kirchen. Die Menschen können ohne natürliche Lebensgrundlagen nicht überleben. Wer sich mit dem Menschsein in allen Dimensionen befasst, kann die Lebensgrundlagen und die Lebensbedingungen deshalb nicht ausklammern. Der Mensch ist nicht nur ein spirituelles Wesen.

Wie sollen sich gläubige, in der Wirtschaft engagierte Katholiken oder Reformierte zur Enzyklika verhalten?

Rytz: Alle Menschen sollten sie ernst nehmen. Denn sie ist nicht einfach ein individueller Weckruf, sondern sie repräsentiert die Haltung einer grossen religiösen Gemeinschaft mit viel Einfluss auf die Zivilgesellschaft und in einigen Ländern wohl auch auf die Politik. Die Analyse basiert zudem auf Fakten, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und auf einer humanistischen Ethik, welche die langfristige Verantwortung für Mensch und Natur ins Zentrum stellt. Wenn diese Verantwortungsethik durch die Enzyklika gestärkt wird, dann haben wir viel gewonnen. (gs)

Hinweis: Das Interview wurde schriftlich geführt.

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