Dirigentin Graziella Contratto: «Religion ist in der Musik undogmatisch!»

Zürich, 12.3.15 (kath.ch) Die Dirigentin Graziella Contratto tritt als Botschafterin des Kirchenklangfests «Cantars» auf. Über die Bedeutung geistlicher Musik in der heutigen Gesellschaft erzählt sie im Interview mit kath.ch ebenso wie über ihre Erlebnisse als katholisches Mädchen im Flecken Schwyz.

Sylvia Stam

Warum treten Sie als Botschafterin des kirchlichen Musikevents Cantars auf?

Graziella Contratto: In Schwyz wirken verschiedene Chöre und Ensembles mit, teilweise dirigiert von Persönlichkeiten, bei denen ich als junge Organistin und Geigerin selber noch Unterricht genossen hatte. Mein Herr Papa singt zudem im Männerchor Schwyz mit, und ich mag es einfach, ihm beim Singen zuzuschauen, er wirkt immer so glücklich dabei und ist seit Jahrzehnten sehr engagiert.

Was für einen Bezug haben Sie selber zu kirchlicher Musik?

Contratto: Ich war jahrelang Mitglied des Kirchenorchesters Schwyz, und immer während der Weihnachtsmette tauschten meine beste Freundin Barbara und ich die Geschenke auf der Empore ganz hinten rechts aus. Ich habe zudem während mehreren Jahren Orgel gespielt, wobei ich als Katholikin abtrünnigerweise auch bei den Protestanten spielte, die übrigens bessere Honorare zahlten!

Dann haben Sie als Organistin auch Erfahrung mit Kirchenliedern!

Contratto: Auf der Empore kommt der Gemeindegesang immer mit einer beträchtlichen Verspätung an. Kirchenlieder mit der gebührenden akustischen Verschiebung zu begleiten, hat mich jahrelang dazu erzogen, eine gute Zuhörerin zu werden. Davon profitiere ich heute noch immer, in ganz verschiedenen Kontexten.

Welches geistliche Chorwerk mögen Sie besonders gern?

Contratto: «Ein Deutsches Requiem» von Johannes Brahms. Wir haben es mit dem Urschweizer Kammerensemble 1985 mehrmals aufgeführt. Da ich als Geigerin im ersten Satz nichts zu spielen hatte, hörte ich dem Chor und meinen Orchesterkollegen zu und vergoss jedes Mal Tausende von Tränen vor Rührung. «Selig sind, die da Leid tragen» – im klanglichen Dämmerschein eines so gewichtigen und gleichzeitig so einfachen Textes musste ich mich jedes Mal zusammenreissen, um für den zweiten Satz, dann wieder mit Violinen, bereit zu sein.

Welche geistlichen Chorwerke haben Sie als Dirigentin zur Aufführung gebracht?

Contratto: Ich habe vor allem während meiner Tätigkeit als Chefdirigentin des Orchestre des Pays de Savoie in Frankreich immer wieder mit Chören zusammen gearbeitet. Bachs «Johannespassion», Schuberts «As-Dur-Messe», Pergolesis «Stabat Mater», aber auch Werke mit geistlichem Hintergrund aus anderen Kulturen waren ein bereichernder Bestandteil unseres Repertoires.

Welchen Stellenwert hat geistliche Musik Ihrer Meinung nach in der heutigen Gesellschaft?

Contratto: Sie ist vielleicht die beste Art, sich mit religiösen Themen zu befassen, weil sie nie dogmatisch ist. Sie spiegelt vielmehr rituelle, tief menschliche Prozesse in klanglichen Entwicklungen oder in einer harmonischen Wendung auf einer ganz anderen Ebene. Zudem bringt die liturgische Dramaturgie einer Messe die Menschen dazu, immer von sich selbst (Kyrie) über den Blick nach oben (Gloria) und in die Verbindung zum Menschlichen im Göttlichen (Wandlung, Agnus) hin zu einer leichteren Art, wieder ins Leben zurück zu finden. Die besten Komponisten haben dies seit Jahrhunderten immer wieder in Musik gegossen. Das ist ein unschätzbares Kulturerbe, finde ich immer noch.

Sind Sie selber ein religiöser Mensch?

Contratto: Meine Religiosität war durch meine Kindheit und Jugend in Schwyz stark vom Rhythmus der Kirchenfeste geprägt. Dazu kamen zahlreiche musikalische Aktivitäten im Kirchenbereich. Sie bildete eine Ergänzungsheimat zur Naturumgebung, zu den Freundschaften und Volksbräuchen im Flecken Schwyz. Seit ich an anderen Orten lebe, hat sich die Religion in eine etwas andere Richtung entwickelt: Sie ist eher philosophischer geworden. Mich interessieren die geschichtlichen Bedingungen der ersten urchristlichen Marketingstrategen Petrus und Paulus. Sobald ich jeweils in Schwyz bin, ändert sich das alles wieder schlagartig, und ich komme mir vor wie ein kleines Mädchen, das in der Kerchel-Marienkapelle an den Glockenseilen schwebt…. In dieser Pendelbewegung befinde ich mich.

 


Die Dirigentin

Graziella Contratto ist Dirigentin und Leiterin des Fachbereichs Musik der Hochschule der Künste Bern. Sie war Assistentin Claudio Abbados bei den Berliner Philharmonikern und bei den Salzburger Osterfestspielen, Chefdirigentin des Orchestre des Pays de Savoie sowie Intendantin des Davos Festival – young artists in concert. Einem breiteren Publikum bekannt wurde sie ausserdem durch ihre Auftritte mit dem Komikerduo «Ursus und Nadeschkin». (sys)

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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