Erik Petry über Gaskammern und stolze Juden im Fussball

Basel, 5.3.15 (kath.ch) Kürzlich sorgte der Fan-Club des FC Luzern mit einem «Juden»-Auftritt in St. Gallen für Aufregung. Ein als Jude verkleideter Mann führte den Zug der Fans an. Erik Petry, stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Uni Basel und grosser Fussballfan, erklärt gegenüber kath.ch, auf dem Fussballfeld ist der «Schwule» das schlimmste herabsetzende Schimpfwort, auf der Tribüne der «Jude». Tradition habe aber auch, dass der Jude als der starke Mann angesehen wird. Verschiedene Vereine brüsteten sich mit diesem Bild des Juden. Petry spielte bis zu seinem 36. Altersjahr in Amateurclubs seiner Heimatstadt Kassel. Er war auch Fussballtrainer und Schiedsrichter.

Georges Scherrer

Fussball-Fangruppen begleiten zuweilen ihre Mannschaft mit Sprechchören und Gesängen, die von rassistischen Sprüchen nicht frei sind…

Erik Petry: Zurzeit gibt es mehr rassistische Auftritte als auch schon. Eine Zeitlang ging das zurück.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Petry: Wir müssen uns fragen, warum dies enttabuisiert ist. Die Fussballwelt versucht heute vor jedem Champions League-Spiel und an den Weltmeisterschaften mit grossen Transparenten wie «Nein zu Rassismus» auf die Zuschauer einzuwirken. Diese Werbespots laufen nicht nur im Fernsehen, sondern live in den Stadien. Es gibt eine harte Arbeit mit den Fans. Warum das nicht funktioniert, ist mir ein Bisschen unklar.

Ein Beispiel: Da wirft eine Fangruppe eine riesige Banane auf einen dunkelhäutigen Spieler. In der eigenen Mannschaft hat es aber auch dunkelhäutige Spieler. Da kann man sich nur noch fragen: Was soll das? Man steht hilflos vor diesem Phänomen. Das ist auch beim Vorfall mit dem FC Luzern so. Der Fan-Beauftragte der Clubs hatte offenbar im Voraus Kenntnis von der Aktion. Es ist ihm nicht gelungen, den Fans klar zu machen: «Das ist keine supertolle Aktion.» Die Botschaft scheint nicht durchzudringen.

Sind Sie oft an Fussballspielen des FC Basel?

Petry: Ja, aber nicht in der Muttenzer Kurve. Als ich erstmals Mitglied eines Fussballvereins wurde, da war ich gerade sechs Stunden alt. Ich bin mit dem Fussball aufgewachsen, habe selbst bis zum 36. Lebensjahr gespielt. Ich bin Jahrgang 61. Mitte der Siebziger-Jahre habe ich angefangen, mit Kumpels und auch alleine in die Fussballstadien zu gehen. Damals gab es in Deutschland bereits Gesänge in der Art, dass man mit bestimmten Vereinen durch die Gaskammern rasen werde. Als ganz junger Fussballfan habe ich das gar nicht verstanden. Hinterher habe ich herausgefunden, dass der Verein, bei dem das gesungen wurde, stark mit jüdischen Spielern und Funktionären konnotiert wurde. Ich frage mich aber, ob dies überhaupt Einfluss auf diese Gesänge hatte. Die Bezeichnung «Jude» war einfach präsent. Hinzu kommt noch die Bezeichnung Judas, für jemanden, der den Verein verlässt. Eine Zeitlang war das gang und gäbe.

Judas ist der Verräter. Was ist mit dem Juden?

Petry: An der Bezeichnung Jude ist nichts Negatives, das ist ganz wichtig. In diesem Fussball-Kontext aber wird er für eine ultimative Beleidigung und Herabsetzung missbraucht. Dieses Phänomen hält sich schon lange. In deutschen und Schweizer Stadien ist das nicht so präsent, dass ich sagen muss: Das hört man jede Woche. Der Jude ist aber immer so ein Trigger, ein Reiz also, der funktioniert. Wenn jemand als Jude bezeichnet wird, dann ist allen klar, was damit gemeint ist: Die Person wird runtergesetzt, gehört nicht dazu, ist nicht männlich. Im Frauenfussball erlebt man nicht, dass jemand sagt: Du bist eine Jüdin. Im Männersport hingegen ist der «Jude» stark bepackt. Von den Leuten, die das rufen, wird damit ganz viel transportiert. Das muss auch bei den Luzerner Fans der Fall gewesen sein. Ich habe aber nicht gewusst, dass für diese die St. Galler Fans jüdisch konnotiert sind.

Warum halten sich rassistische Stereotypen im Fussball?

Petry: Für Fan-Gruppen muss es ein klar erkennbares, universelles Feindbild geben. Es muss etwas sein, das von allen Seiten sofort verstanden wird: Von denen, die das rufen, und jenen, die das hören. Wenn man als Basler ruft: Ihr Zürcher seid alle blöd, dann ist das nicht besonders originell. Beim Juden weiss man hingegen sofort, was gemeint ist: Erniedrigung. Die Beleidigung Jude scheint in den letzten Jahren auch auf Pausenhöfen bei Schülern wieder in Mode zu kommen. In der Schweiz habe ich es jedoch noch nicht erlebt.

Ein anderes Beispiel: Wenn ein Fussballspieler bekennt, dass er homosexuell ist, dann ist dies für ihn eine schwere Hypothek, was erschreckend ist in der heutigen Zeit. Meist tun dies nur Spieler, die nicht mehr aktiv sind. Wenn im Spiel jemand auf die Schnelle beleidigt werden soll, dann ist die Bezeichnung Schwuler sehr schnell da. Im Spiel selber funktioniert der Jude eigentlich nicht. Dieser hat seinen Platz bei den Fans auf den Tribünen.

Wie ist das mit dem abschätzigen «Jugo» für Leute aus dem Balkan?

Petry: In diesem Fall ist weniger die Herabsetzung gemeint. Es geht eher um Ausgrenzung. Mit dem Jugo oder Albaner wird jemand aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen. Es hat aber nicht die negative Qualität des «Juden».

Anhänger des englischen Fussball-Club Chelsea haben kürzlich in Paris einem Dunkelhäutigen den Zutritt in die Metro verweigert und dabei gesungen: Wir sind Rassisten. Die Szene wurde zufällig gefilmt und darum publik.

Petry: In der Fan-Szene hat sich schleichend eine rechtsradikale Szene eingebracht. Das ist auch ein Problem für die Fan-Arbeit. In Deutschland hat diesbezüglich etwa Borussia Dortmund Mühe mit einer derartigen Unterwanderung.

Besteht in Europa ein gewisser Grund-Rassismus gegenüber Afrikanern, Juden und anderen, der im Schutz der Fan-Clubs an die Oberfläche gelangt?

Petry: Eine solche anthropologische Komponente zum Rassismus würde ich nicht unterschreiben.

Fallen im Schutz der Masse die Hemmungen?

Petry: Es ist schon so, dass in der Masse Gesänge angestimmt werden, von welchen der Einzelne, der mitsingt, Abstand nimmt, wenn man ihn darauf anspricht.

Ein Vertreter des FC Luzern erklärte auf Anfrage, dass gewisse St. Galler mit «KZler» antworten, wenn sie als «Juden» ausgeschimpft werden. Hat so etwas Tradition?

Petry: Für mich ist es völlig neu, dass die St. Galler und die Luzerner Fussballfans mit solchen Bezeichnungen aufeinander losgehen. Wir kennen das von anderen Vereinen in Europa, bei denen sich Fan-Gruppen als jüdisch bezeichnen, auch wenn sie es nicht sind. Das ist etwa bei Ajax Amsterdam und Tottenham der Fall, die, im Gegensatz zu Hakoah in Wien, keine jüdischen Vereine sind. Sie hatten aber einen grossen Anteil an jüdischen Spielern und Zuschauern, weil sie in Vierteln gross wurden, wo sehr viele Immigranten wohnten. Aus dieser Tradition nehmen die Fans etwas heraus, drehen aber das Bild des Juden um. Sie sehen die Juden als Super-Athleten und schwenken bewundernd die Israelfahne. Der im Englischen abschätzige Begriff Yiddo für Jude wird von den Fans mit Stolz getragen. An dieser Praxis stören sich die offiziellen Vertreter der Clubs, können aber den Wortgebrauch nicht verhindern.

Der Begriff Jude wird positiv verwendet, weil er auf eine grosse Vergangenheit verweist: Der Jude ist stark und durchsetzungsfähig. Die gegnerischen Vereine reagieren natürlich auf diese Gesänge und antworten zum Teil mit Gasgeräuschen oder Sprüchen wie «Alle Juden ins KZ». Da geht es zum Teil ziemlich heftig zu. Das ist ganz stark in England.

Können die Fans des FC Luzern so etwas kopiert haben?

Petry: Das kann ich mir nicht vorstellen, weil das in den letzten Jahren sehr kritisch begleitet wurde. Der Fall der Luzerner Fans hat vermutlich mit Gedankenlosigkeit zu tun. Die Luzerner Fans trieben den «Juden» in St. Gallen vor sich her, um zu zeigen, dass er sehr schwach ist. Ich bin der Meinung, dass diese Sache sehr genau untersucht werden muss, auch von der Staatsanwaltschaft. Der Fall darf nicht heruntergespielt werden. In dem Fall steht der «Jude» ganz klar für ein ganz brutales, herabsetzendes Schimpfwort. Im Gegensatz etwa zum «Albaner» bedeutet «Jude» ganz klar: Du bist minderwertiger als ich.

Besteht die Gefahr, dass solche Fanclub-Beispiele in der breiten Öffentlichkeit Nachahmung finden?

Petry: Ich sage ganz klar Nein. Aber, wenn Sie mich vor drei Wochen zur Möglichkeit eines solchen Vorfalls befragt hätten, dann hätte ich auch gesagt: Nein. Es ist wichtig, dass diese Luzerner Geschichte thematisiert wird. Und es muss klar gesagt werden, warum wir solche Auswüchse nicht wollen. Menschen dürfen gerade auch beim Fussball nicht beschimpft werden. Auch im öffentlichen, zum Teil rechtsfreien Raum, in der anonymen Masse eines Stadions darf der Einzelne seine Lust an Gewalt, die nichts mit Fussball zu tun hat, nicht ausleben.

Wie soll die Gesellschaft auf diskriminierende Auswüchse reagieren?

Petry: Anlässlich der Fussball-EM 2012 in der Schweiz untertitelte das Schweizer Fernsehen die Nationalhymnen, während diese gespielt wurden. Als Text für die deutsche Nationalhymne «Einigkeit und Recht und Freiheit» wurde versehentlich der umstrittene Text «Deutschland, Deutschland über alles» eingeblendet. Ich wurde daraufhin vom Schweizer Fernsehen aufgeboten, um mit jenen Leuten, die für die Untertitelung verantwortlich sind, einen Workshop zum Thema Nationalhymne zu machen. Meine Idee wäre, dass man mit einem ausgewählten Kreis der Fans des FC Luzern einen Workshop zum Thema Erniedrigung und dem Funktionieren von Fan-Gruppen macht und klärt, was passiert ist. (gs)

Weiterer kath.ch-Text zum Thema Juden, Rassismus, Fremdenhass, Sport und Fasnacht

 

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