Interview mit einem der letzten Katholiken im Gaza: «Ich will hier raus!»

Gaza-Stadt, 3.2.15 (kath.ch) Jawdatt schätzt sich glücklich im Vergleich mit seinen Altersgenossen. Der 23-Jährige hat sein Bachelor-Studium der englischen Literatur an der Universität Gaza abgeschlossen und arbeitet als Praktikant in einem christlichen Krankenhaus. Im Interview mit kath.ch-Korrespondentin Andrea Krogmann spricht der junge Christ über sein Leben als einer von 135 Katholiken, die es im Gaza noch gibt. Zu seinem Schutz geben wir nur seinen Vornamen an. Im Video hört man seine Stimme.

Wie wichtig ist Dein Glaube für Dich?

Ich bin stolz, Christ zu sein und sehr, sehr stolz, Katholik zu sein. Als Papst Franziskus mit dem jordanischen Hubschrauber direkt nach Bethlehem gekommen ist, hat er gezeigt, dass Palästina ein unabhängiger Staat ist. Er hat sich geweigert, über den Flughafen Ben Gurion nach Palästina zu reisen. Wir sind sehr stolz auf ihn.

Du hast Dein Bachelor-Studium abgeschlossen. Was sind Deine Pläne?

Ich möchte mich weiterentwickeln. Ich will eine bessere Zukunft, aber ich sehe keinen Weg in Gaza.

Du willst raus aus Gaza?

Ja.

Kannst Du raus?

Nein. Ich kann Gaza nicht via Israel verlassen, weil ich keine 35 Jahre alt bin. Und Ägypten hat die Grenze geschlossen. Wenn Menschen dies hören, werden sie sagen, du darfst die Hoffnung nicht verlieren. Fakt ist aber, dass wir in einem Gefängnis leben. Was meine Freunde ausserhalb mir über das Leben erzählen, haben wir nicht in Gaza. Wir haben kein normales Leben.

Wovon träumen junge Menschen in Gaza?

Ich kann nur von meinem Traum erzählen. Ich will einen Master machen, damit mein Vater stolz auf mich ist. Dann will ich zurück nach Palästina, um mein Land und meine Kirche weiterzuentwickeln. Meine Generation von Christen hier hatte nie die Chance, sich so zu qualifizieren, dass Menschen sagen. «Diese Christen sind unglaublich.»

Die früheren Generationen hatten die Chance, überall hinzugehen und etwas wirklich Wichtiges zu studieren. Noch heute gibt es Menschen in Gaza, die sagen «Ja, ich kenne Doktor Flan. Er ist Christ». Meine Generation hat nicht die Chance, Fertigkeiten zu erlernen, die sie in die Gesellschaft einbringen kann.

Also eine verlorene Generation?

Wir sind eine verlorene Generation, weil wir kein normales Leben haben. Aber wir sind auch eine erfahrene Generation. Wir wissen mehr, als alle anderen in der Welt über die harten Umstände des Lebens. An welchen Ort in der Welt Du mich auch bringst, ich kann mit der Situation umgehen, weil ich diese Erfahrung habe. Bring mich nach Somalia, nach Amerika, nach London: Ich kann dort leben.

Trotzdem willst Du zurück nach Gaza.

Ich will mit einem guten Abschluss zurückkommen und das Land oder eine christliche Organisation leiten, um so allen Menschen zu helfen. Das ist es, was Jesus von uns will. Wie können wir zur Verbreitung des Christentums beitragen? Nicht indem wir von Jesus oder der Bibel reden, sondern durch unsere Haltung gegenüber den Menschen. Die meisten glauben, wir wollen auswandern. Sie sollten wissen, dass wir unsere Familien hier haben und dass das hier das Land Jesu ist. Das können wir nicht einfach verlassen.

Wenn Du jemanden um Hilfe bitten könntest, um was würdest Du bitten?

Ich will kein Geld. Ich will mein Geld mit meiner Arbeit verdienen. Wenn mir jemand helfen will, dann mit einem Stipendium oder mit einer Einladung ins Ausland. Ich will mich nicht schwach fühlen, nur weil das Leben hier nicht so befriedigend ist wie im Ausland und ich im Krieg lebe.

Wie hast du diesen Krieg erlebt?

Mein ganzes Leben ist Krieg. Ich wurde 1992 geboren. 2000 begann die zweite Intifada. 2008 war ich noch in der Schule. Meine Eltern waren mit Weihnachtsreisegenehmigungen ins Westjordanland gefahren, ich bin bei meiner Tante geblieben. Ich war 17 Jahre alt und bekam keine Reisegenehmigung. Es war zwei Tage vor Weihnachten, als die Bombardierung begann. Zuerst hielten wir es für Fake, falsche Flugzeuggeräusche, wie Israel sie manchmal benutzt. Doch dann sahen wir, dass Krieg herrscht. Meine Eltern hörten im Radio davon, dass Krieg ist in Gaza und konnten uns nicht erreichen, weil das Telefonnetz beschädigt war.

2012, beim nächsten Krieg, war ich im zweiten Jahr an der Universität. Wir sassen im YMCA in Gaza-Stadt und hörten ein merkwürdiges Geräusch. Als wir in den Himmel schauten, realisierten wir, dass Raketen aus unserer Nähe abgeschossen wurden. Es waren unsere Raketen. Palästinensische Raketen. Wir fragten uns warum, es gab keine Anzeichen für einen Krieg und der letzte Krieg war erst weniger Jahre her. Minuten später kamen die F16-Bomben aus der Luft, also sind wir nach Hause gegangen. Nach zwölf Tagen war der Krieg vorbei. Ich ging weiter zur Uni und machte meinen Abschluss. Sechs Tage danach begann der 2014-Krieg. Und dieser Krieg war wirklich eine Katastrophe.

Was war anders?

Jede einzelne Stelle in Gaza war von den Raketen bedroht. Wir konnten nichts als zu Hause bleiben und auf den Tod warten. Der Krieg dauerte 51 Tage. Nach dreissig Tagen spürte ich, dass psychisch etwas nicht in Ordnung ist. Dreissig Tage zuhause, Du hörst, dass Dein Freund gestorben ist, dass es in dieser Strasse einen Tunnel gibt, dass sie das Haus links von deinem bedrohen. Wir konnten nicht mal Batterien für das Radio kaufen, um Nachrichten zu hören. Heute gehe ich ins Fitnessstudio, um diese schlechten Gefühle aus mir rauszubekommen.

Und die Kirche in all dem?

Die Christen in Gaza haben während des letzten Kriegs sehr hart gearbeitet. Sie haben Menschen mit Wasser und Nahrung versorgt, ihre Schulen und Kirchen für Flüchtlinge der völlig zerstörten Viertel geöffnet.

Was wünschst Du Deiner Heimat Gaza?

Ich wünsche mir Frieden, Frieden und nochmal Frieden. Und Freiheit, für mich, damit ich fühle, dass ich ein freies Leben führe.

(akr)

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