«Kommt, es reicht! Es reicht für alle!»

Demonstration für eine offene katholische Kirche in St. Gallen:

St. Gallen, 9.3.14 (Kipa) Über 2.000 Personen sind am Sonntag, 9. März, nach St. Gallen gereist, um ihrem Unmut über die Zustände im Bistum Chur Ausdruck zu verleihen. Die Teilnehmer zogen vom Bahnhof zum Klosterplatz, wo ein sichtlich bewegter Markus Büchel, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Forderung nach einem Administrator für das Bistum Chur entgegennahm.

Sylvia Stam

«Es ist wieder kalt geworden im Bistum Chur, sehr kalt», sagt eine Stimme aus dem Off. Gebannt schauen die Anwesenden auf die Figur auf der Bühne: Eine schmale Gestalt, in rotes Tuch gehüllt. Sie spricht nicht, steht nur starr, mit verschränkten Armen und unbeweglichem Gesicht da, stellvertretend für Seelsorgerinnen und Seelsorger aus dem Bistum Chur, die fürchten, bei einer öffentlichen Meinungsäusserung ihre Stelle zu verlieren.

«Ich bin schwul. Ohne Beziehung, seit Jahren. Ich arbeite im Bistum Chur. Man nötigte mich zu kündigen.» – «Ich wünsche mir einen Bischof, der akzeptiert, dass es in der Schweiz Kantonalkirchen gibt mit ihren eigenen Befugnissen. Ich habe ihn nicht.» – Es sind zwei Stimmen, die für die vielen stehen, die an diesem sonnigen Frühlingssonntag den Weg nach St. Gallen fanden. Menschen aus dem Bistum Chur, aus der Ost- und Innerschweiz, ja sogar aus Genf waren angereist, um gemeinsam mit zehn katholischen Verbänden ihren Unmut über die Zustände im Bistum Chur kund zu tun.

Vom Staat demokratische Strukturen lernen

Unter dumpfem Horngebläse zog der Demonstrantenzug durch die Innenstadt, zahlreiche ältere Leute, aber auch Familien, Homosexuelle, Jugendliche. 2.000 waren es laut Schätzungen der Polizei, 3.000 laut dem Schweizerischen Katholischen Frauenbund (SKF). Viele trugen ein hellgrünes Band mit der Aufschrift «Es reicht», das von den Verbänden verteilt worden war.

Nach den anonymen Stimmen der Bündner Seelsorger hielt Anton Schwingruber, CVP-Politiker und ehemaliger Bildungs- und Kulturdirektor des Kantons Luzern, ein feuriges Plädoyer für die staatskirchenrechtlichen Strukturen. Lebendig könne eine Kirche nur sein, wenn das Volk nicht nur mitwirken, sondern auch mitbestimmen könne. Und er zitierte Papst Franziskus, der sagte, der Bischof müsse alle anhören, «nicht nur einige, die ihm Komplimente machen», Papst Franziskus lade alle ein, «wagemutig und kreativ zu sein und die Evangelisierungsmethoden der eigenen Gemeinden zu überdenken», zitierte Schwingruber den Papst und legte der Kirche nahe, von den staatlichen Strukturen zu lernen, beispielsweise von den demokratischen Prozessen oder der geschlechtsneutralen Gleichberechtigung. «In diesem Sinne wünsche ich mir nicht eine andere Kirche, aber die Kirche anders», endete er seine Rede.

Jesus im Schlafsack auf Lampedusa

Energisch und bodenständig schliesslich die Worte der Theologin und Lyrikerin Jacqueline Keune, Mit-Initiantin des Appells «Segen statt Brot»: «Ich wünsche mir eine Kirche, deren Gläubige sich nicht länger disziplinieren lassen, weil sie in ihren Beziehungen gescheitert sind oder weil sie lieben, wen sie lieben.» Eine Kirche auch, die sich an einem Jesus orientiert, «dem es nicht im Traum in den Sinn käme, sich in einer Monstranz aus Gold einzurichten, sondern der auf der kleinen Anhöhe in Hindelbank wohnt und im dünnen Schlafsack auf Lampedusa». Sie wünsche sich eine Kirche, deren Bischöfe Herzlichkeit und Freude ausstrahlten, und die nicht nur wüssten «wo im Bücherschrank das Kirchenrecht steht, sondern auch, wo im Bistum die Ärmsten hausen und die zwei, drei ihrer Vornamen kennen». Bischöfe schliesslich, die ihren Gläubigen zurufen: «Kommt, es reicht! Es reicht für alle!»

Büchel sichtlich berührt

Still am Rande der Menge stand unterdessen der Adressat der Veranstaltung, Markus Büchel, Präsident der SBK, bevor er sich aufs Podium begab, um von Rosmarie Koller-Schmid, Präsidentin des SKF, den Brief entgegenzunehmen, in welchem die Organisatoren ihre Forderungen formulieren: Die Einsetzung eines Administrators für das Bistum Chur «der das Vertrauen der Mehrheit der Gläubigen geniesst», ein kirchliches Denken, «das keinerlei Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen duldet», sowie einen Umgang mit den Resultaten der Familienumfrage, der «ermutigende Konsequenzen für die Betroffenen nach sich zieht.»

Bischof Markus Büchel hielt in seiner Rede sichtlich bewegt fest, wie schwierig es sei, eine Sprache zu finden, die nicht verletze. Begegnung und ehrlicher Dialog, dies sei der Weg, zu dem Papst Franziskus immer wieder ermahne. «Möge es uns gelingen, Brücken zu bauen und nicht Brücken niederzureissen.» In diesem Geist nehme er die Botschaft zu Handen der SBK entgegen.

SKF: Dialog weiterführen

Die Kundgebung berühre ihn sehr, sagte Büchel im Anschluss an die Kundgebung gegenüber Medien. Die Veranstaltung zeige, dass sich viele Menschen um die Kirche kümmerten. «Wir werden die Botschaft in der Bischofskonferenz analysieren und dann schauen, ob es etwas zu handeln gibt für uns. Das, was wir nicht behandeln können, werden wir an die zuständigen Stellen, das heisst an den Nuntius und nach Rom weiterleiten», erklärte Büchel das weitere Vorgehen gegenüber der Presseagentur Kipa. Er wollte sich nicht dazu äussern, wie realistisch die Forderungen seien.

Rosmarie Koller-Schmid zeigte sich sehr glücklich über die Veranstaltung und dankbar, dass Markus Büchel die Forderungen entgegengenommen habe. «Wir warten nun ab, ob wir von der SBK eine Einladung zu einem Gespräch erhalten werden. Uns katholischen Verbänden ist sehr daran gelegen, an einer zukunftsfähigen Kirche mitzuarbeiten. Wir wollen den Dialog auf jeden Fall weiterführen!»

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(kipa/sy/bal)

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